Ich suche keine Probleme, ich finde Lösungen

/ Anna Lingscheid

Peter sollte nicht geboren werden. „Lassen Sie besser abtreiben, er wird eh noch im Mutterleib sterben“ sagten die Ärzte damals den werdenden Eltern. Sie aber überließen dem Ungeborenen die Entscheidung und die Mutter brachte ein sterbenskrankes Würmchen mit halber Lunge, schwerstem Herzfehler und vielen weiteren Organfehlbildungen zur Welt.

Dass er auch noch fast blind ist, stellten sie erst Jahre später fest, waren sie doch erst mal damit beschäftigt, Peters Lebenswillen zu akzeptieren. Er hat gekämpft wie sonst keiner. Wurde in Eiswasser getaucht, Strom schoss durch seinen Körper, sein Herz wurde aufgeschnitten, er wurde nächtelang von der Mutter bebetet und immer wieder hob er seine kleine Faust und zeigte es allen. Jetzt sitzt er halb blind und kaum körperlich belastbar im Gymnasium mit einem Einser Zeugnis in der einen Hand und dem ersten Preis beim Debattierwettbewerb in der anderen.

Ich bin so stolz auf den kleinen Klugscheißer und gleichzeitig auch wieder traurig, dass mein David zwar auch so gekämpft hat, aber seinen Sieg gegen den frühen Herztod mit einem schwersten Hirnschaden bezahlt hat.

Der Anfang

David kam 2002 mit einem Herzfehler zur Welt. Eine Operation war unumgänglich, aber er sollte nach dem ersten Lebensjahr soweit gesund werden, dass er ein normales Leben würde führen können. Es kam leider anders und ein Herzstillstand von 10 Minuten zerstörte einen beträchtlichen Teil seines Gehirns. David kann nicht sprechen, auch nicht mit irgendeiner Form der Unterstützten Kommunikation kommunizieren, er kann nicht laufen, hat eine zentrale Blindheit, schwerste Spastiken...

Mit zehn Monaten wurde er aus der Klinik direkt ins Kinderhospiz entlassen. Die Ärzte gingen davon aus, dass er die nächste Bronchitis nicht überleben wird.

Mich hat die damalige Prognose eher getröstet: David hat gekämpft und sein Bestes gegeben, also erlaubte ich ihm, den Kampf zu verlieren und zu sterben.

Wir sind dann mit Freunden in die Bretagne gefahren und haben ihm das Meer gezeigt, die Appenzeller Berge bestiegen und versucht, sein kurzes Leben so schön wie es nur ging zu gestalten.

Sein Bruder hat ihn geküsst so oft er konnte, wir Eltern haben ihn getragen, bis wir selbst nicht mehr laufen konnten.

Ich weiß nicht, was ihn dazu veranlasst hat mein Angebot sterben zu dürfen nicht in Betracht zu ziehen – er redet ja bis heute nicht mit mir, aber er ist geblieben und die Zeit verging.

Die Maschinerie

Der integrative Kindergarten um die Ecke nahm ihn auf, und zwei Jahre später diskutierten wir den Übergang in die Schule.

Die anderen Muttis mit ihren herzkranken Kindern, welche zum Teil auch noch geistige und andere Einschränkungen haben, sahen sich nach inklusiven Angeboten um – und ich schaute mir Förderschulen an.

Mir kam es anfangs gar nicht in den Sinn, David auf eine Regelschule zu schicken. Der Kampf um die wenigen inklusiven Plätze in Köln war groß und ich dachte auch: Was soll ich einem Kind mit Down-Syndrom den Platz wegnehmen, David kann doch eh nichts. Ich war traurig und resigniert.

Die „Beratung“ über die Beschulung Davids in der Förderschule war teilweise doch sehr skurril. Bei einem Infoabend kam ich mir vor wie ein entmündigtes Kind: „Wir machen das schon, wir kümmern uns um ihr Kind, sie brauchen nichts mehr zu machen, wir haben die Erfahrung, stellen Sie nicht so viele Fragen...“.

Der Besuch einer weiteren Förderschule schockierte mich regelrecht ob der Hässlichkeit der Räume. Ich sprach mit Davids Erzieherin darüber und sie meinte, dass sie noch nie in dieser Förderschule war. Sie empfahl also seit Jahrzehnten Eltern ihr Kind an eben diese Schule zu geben und hatte sie noch nie von Innen gesehen?!

Ich fing also endlich an, die Beschulung Davids ernst zu nehmen. Ich sah mir alle in Frage kommenden Förderschulen an, stellte haufenweise Fragen und ließ es nicht mehr zu, dass mir, anstatt mich ernst zu nehmen, der Kopf getätschelt wurde.

Die Entscheidung für die Inklusion

Dann kam der Kongress „Eine Schule für alle“ in Köln. Eigentlich wollte ich nur eine Freundin abholen, um mit ihr einen netten Abend in der Stadt zu haben.

Sie wollte aber erst noch einen Film sehen und einen Vortrag hören:

Der Film „Klassenleben“ von Hubertus Siegert berichtet von einer inklusiven Schule in Berlin. Es gibt dort eine wundervolle Szene, wo einem schwerstbehinderten, schwerstkranken Schüler von zwei Mitschüler*innen erklärt wird, was ein Pferd ist. Sie haben ein Holzzebra in der Hand, das sie über ihn laufen lassen: „Also das ist ein kleines Holzpferd, weil ein richtiges wäre ja viel zu groß – fühl mal, und das hier ist auch ein Zebra, aber das sieht ähnlich aus, aber wir hatten kein Holzpferd und das Zebra ist schwarzweiß gestreift – ach du bist ja blind und weißt gar nicht was schwarzweiß ist.“ Also fingen die Schüler*innen erst mal an ihrem blinden Mitschüler zu erklären was denn schwarz und was weiß ist.

Ich war zu Tränen gerührt. Unmöglich die Synapsen der Kinder zu zählen, die sich während des Gespräches gebildet haben.

Dann kam der Vortrag von Gerald Hüther „Inklusion macht schlau“.

Herr Hüther lächelte uns an und sprach, dass er gut verstehen kann, dass wir als Eltern es uns wünschen, dass unsere Kinder zur Regelschule gehen können. Das wäre sehr lobenswert und emotional und er würde uns nun mal die wissenschaftlichen Fakten liefern.

In Verbindung zu dem vorher gesehenen Film wurde mir während des Vortrags klar, dass David auch in die Inklusion gehört. Nein nicht auch, sondern gerade er. Wenn Inklusion schlau macht, wovon ich aus tiefstem Herzen überzeugt bin, muss es doch auch Menschen geben, die den „Regelschülern“ die Möglichkeit eröffnen können, durch Inklusion klug zu werden. Es braucht Davids in den Schulen, damit Schüler die Frage: “Was ist ein Pferd?“ mit einem einstündigen Vortrag beantworten können/müssen und dabei unzählige Synapsen in ihren Köpfen sprießen lassen.

Es braucht Davids in den Schulen, um die Grenzen zwischen Förderschülern und Regelschülern abzuschaffen. Wenn David regelbeschult wird, wer sollte dann noch auf die Idee kommen, dass der blinde schwache Peter kein Abitur an der Regelschule machen darf?

Wenn wir die Inklusion ernst nehmen wollen, dürfen wir uns keine Schere im Kopf erlauben. Wir dürfen nicht mehr fragen ob, sondern beantworten, wie wir gemeinsam leben möchten.

Vor allen Dingen habe ich erkannt, dass David eine Aufgabe im Leben hat.

Der Weg in die Grundschule

Davids großer Bruder Fabian besuchte damals bereits die ehemals Peter-Petersen-Schule, jetzt Rosenmaarschule in Köln Höhenhaus.

Das besondere an dieser Grundschule: die Schüler*innen des ersten bis vierten Schuljahres werden gemeinsam unterrichtet und es gibt keine Noten. Weder für die Regel- noch für die Förderschüler*innen. Die Schule hatte bereits jahrelang Erfahrungen mit der Inklusion.

Der Direktor zögerte keine Sekunde damit, David einen Platz zuzusagen.

Wir hatten das Glück, beim Gesundheitsamt die richtige Ärztin erwischt zu haben. Sie brennt ebenfalls für die Inklusion. Andere Eltern hatten weniger Glück mit ihren zuständigen Amtsärzt*innen und mussten sich Sprüche anhören wie: „Ob ihr Kind inklusionsfähig ist oder nicht, entscheide immer noch ich.“

Die Pädagog*innen des Kindergartens waren entschieden gegen die Überlegung David inklusiv beschulen zu lassen. Es würde ihn überfordern, die Schule sei chaotisch und viel zu laut. Die übliche Wattebauschschmeißerei.

Dennoch habe ich die Bedenken ernst genommen und mir auch weiterhin Förderschulen angeschaut und mit anderen Eltern gesprochen. Es waren sehr ernüchternde Gespräche. Eine Mutter erzählte von der Förderschule Sprache, die sie sich angesehen hatte, dass es unerträglich laut war in der Schulklasse, die gerade mal aus acht Schüler*innen bestand. Eine andere Mutter lachte über das Schwimmbad, welches die andere Förderschule anpries; „Meine Tochter ist in den letzten vier Jahren drei Mal schwimmen gewesen.“

Ein Argument der Inklusionsgegner, David nicht in die Regelschule zu geben war es, dass David anderen Kindern den Platz wegnehmen würde. Und da waren es die tollen Eltern, die gebibbert und gekämpft haben, ob das eigene Kind einen der raren Regelschulplätze bekommt: „Wenn es zu wenig Plätze gibt, dann soll die Stadt gefälligst welche schaffen.“ Sie, die am meisten zu verlieren hatten standen an unserer Seite.

Also nachdenken: Was braucht es an der Rosenmaarschule? Wir gingen ins Gespräch mit Lehrer*innen, den Physiotherapeut*innen, der Nachmittagsbetreuung. Probleme wurden gewälzt, Gesetze gelesen, Ängste ausgesprochen...

Es sollte dann einen Termin in der Schule mit allen Beteiligten geben. Am Abend vorher besprach ich mit der Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, dass es wohl nicht funktionieren kann. Wir hatten eine lange Liste erstellt, warum die Inklusion für David von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

Wir gingen also traurig und fest entschlossen das Projekt zu stoppen in den Termin. Da saßen dann ca. zehn Pädagog*innen, die bei jedem Punkt, den ich ins Feld führte sagten: „nein, das wollten wir so regeln; ach, und das hast du falsch verstanden – das ist der andere Raum; und das haben wir mit der Stadt geklärt…“

Wir schauten in die Runde und sagten: „Leute, ihr wollt den David!“ Und wir hatten alle Tränen in den Augen.

Die Entscheidung war also gefallen und der einzige, aber schwerste Kampf sollte folgen.

Die Schulbegleitung

David hatte während seiner Kindergartenzeit immer eine persönliche Krankenschwester an seiner Seite. Er erfüllte leider die Voraussetzung, dass er jederzeit in eine lebensbedrohliche Situation kommen konnte.

Wir mussten uns allerdings zugestehen, dass er in den letzten Jahren wesentlich stabiler geworden ist, und diverse Herzkatheter sein Herz in einen halbwegs stabilen Zustand gebracht haben.

Es ging also um die Beantragung einer qualifizierten Schulbegleitung und ich wollte mich auf keinen Fall mit einer Nichtfachkraft zufriedengeben.

Es folgte ein monatelanger Kampf gegen das Sozialamt der am Ende auf höchster Ebene in den Schul- und Sozialdezernaten ausgetragen wurde. Es hat mich tatsächlich physisch und psychisch an den Rand meiner Kräfte gebracht. Aber mit viel Unterstützung von allen Seiten konnten wir am Ende auch diesen Kampf gewinnen.

Vor allen Dingen haben wir den Kampf stellvertretend für viele weitere Kinder gewonnen, denen wir nun mit Rat und Tat beiseite stehen konnten, wenn sie für die Beschulung, sei es in der Regel- oder Förderschule, eine Schulbegleitung erkämpfen mussten.

Ich muss mir immer wieder anhören, dass ich ja das Glück habe, dass ich in Köln wohne und die Rosenmaarschule in der Nähe ist. Das ist kein Glück: das ist das Resultat jahrzehntelanger politischer Arbeit meiner Vorgänger*innen, die bereits in den fünfziger Jahren mit der Inklusion begonnen haben und das Resultat der jetzigen Mitstreiter*innen. Das ist das Resultat meiner intensiven politischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und dem nichthinnehmen Wollen der mir vorgesetzten Realitäten.

Die Grundschulzeit

Jetzt konnte die Schulzeit endlich beginnen und ich muss sagen, dass ich nicht einen Moment meine Entscheidung bereut habe.

David bekam in der Schule Physiotherapie, Ergotherapie und Sehtraining. In seiner Stammgruppe gab es eine Sonderpädagogin die einen Förderplan für ihn erarbeitete. Also alles, was er auf einer Förderschule auch bekommen hätte.

David hatte zwar keinen Snoozle-Raum, aber dafür rund um die Uhr Mitschüler*innen um sich herum, die mit ihm redeten, sich Spiele ausdachten, mit ihm sangen, ihm Geschmacksproben anboten etc.

Und seine Aufgabe, andere Schüler*innen klug zu machen hat er mehr als ernst genommen:

  • Die jedes Jahr neuen Erstklässler*innen haben mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit lesen gelernt. David war der „Lesevater“ und hatte immer große Freunde daran vorgelesen zu bekommen, was die Erstklässler*innen natürlich immens motiviert hat, laut und deutlich vorzulesen.
  • Wenn David in Begleitung seiner Fachkraft auf den Schulhof ging, wurden sie oft von schüchternen Erstklässler*innen begleitet, denen alles noch sehr groß und unheimlich erschien. Sie durften dann den Rollstuhl schieben, allerdings mussten sie erst den „Rollstuhlführerschein“ machen. Sie bekamen dann einen richtigen Ausweis, der vom Direktor abgestempelt wurde. Und man kann sich vorstellen, wie die sich fühlten, wenn sie auf Ausflügen David schieben durften. Die großen Selbstbewussten, die in der Pause eher Fußball spielten, durften das nicht – weil: kein Ausweis.
  • Wenn Schüler*innen eine Arbeit erledigt hatten, wurden sie oft aufgefordert, das Erlernte David vorzutragen. Sie taten dies jedes Mal mit großem Enthusiasmus.
  • Wenn es darum ging einen Ausflug z.B. ins Museum zu machen, musste immer eine Gruppe von Schüler*innen abklären ob für David alles bedacht wurde (z.B. Pflegemöglichkeit, Barrierefreiheit...)

Und es gibt noch so viele andere Erlebnisse:

Marco, ein autistischer Schüler hat mit niemandem geredet, außer mit David. Die Schüler*innen sagten dann immer zu David: frag den Marco mal X, und zu Marco sagten sie immer: sag dem David mal X.

In der Gruppe vom großen Bruder gab es einen Schüler mit Spina Bifida. Das war der beste Fußballtrainer der Welt. Der saß immer neben dem Bolzplatz und brüllte seine Freunde an: „Beweg die Knochen, wenn ich Beine hätte: ich hätte den Ball gekriegt...“

Bei den in dieser Schule ständigen Theateraufführungen hatte David in der Regel eine Hauptrolle und es gab eine schier grenzenlose Phantasie der Mitschüler*innen ob seiner Rolle. So war er Emma aus der Geschichte Jim Knopf. Ich bin tausend Tode gestorben, als er mit der Frau Mahlzahn kämpfen musste und von seinen Mitschüler*innen in einem Wahnsinnstempo immer haarscharf am Bühnenrand vorbeigeschoben wurde. Und wenn es David zu viel wurde, wurde kurz unterbrochen, David beruhigt und dann weitergekämpft.

An einem Tag saß David mit seinem Mitschüler Fritz zusammen, der sichtlich schlechte Laune hatte. Es brauchte eine Weile, bis ich rausfand was los war: „Der David ist mein Freund, dem ist es egal, dass mein Vater Astronaut ist!“ Tatsächlich war der Vater Astronaut und David war der Einzige, der Fritz und nur Fritz liebte.

Karin, eine Schülerin mit Down-Syndrom zog sich im Sandkasten gerne die Unterhose aus. Die Mutter hatte ihr tausendmal gesagt, dass sie das unterlassen soll. In der Schule hat sie von ihren Mitschüler*innen die klare Ansage bekommen: Wenn du mitspielen möchtest, hast du das zu unterlassen. Thema gegessen.

Wenn ich mit David spazieren gehe, oder einkaufen oder auf Veranstaltungen wird er namentlich von Gleichaltrigen begrüßt. Natürlich nehmen sie ihn abends nicht mit in die Disco. Aber David hätte das auch gar nicht geschafft.

Die Gesamtschule

Nun kam die weiterführende Schule. Kann das, was in der Grundschule gut lief, hier auch funktionieren? Wird er am Ende nur bei den Mädchen rumstehen und als süßer kleiner Junge deren Anhängsel sein?

Wir werden es ausprobieren und wenn es nicht klappt, geht er eben doch auf die Förderschule.

Auch hier hat David seine Therapien und sonderpädagogischen Angebote gehabt. Es wurde eine Liegelandschaft in der Klasse gebaut und auch im sogenannten ANNA Raum, dem Pausenraum für die Förderschüler*innen gab es noch kleinere Umbauten. Er hat Englisch, Französisch und Spanisch gelernt. (Na ja, und Kölsch), Mathematikunterricht gehabt, die deutsche Literatur kennengelernt, und altersentsprechende Musik geboten bekommen.

Das erste Zusammentreffen mit seinen Mitschüler*innen und deren Eltern war befremdlich und ich musste so einiges weglächeln. Niemand wollte sich neben uns setzen. Wochen später erzählten mir Eltern, dass sie an dem Abend stinkesauer nach Hause gingen: “Inklusion ist ja o.k.  Aber das hat uns niemand gesagt. Unsere Kinder wollten sich sogar weigern in diese Klasse zu gehen.“ Es hat viele Gespräche zwischen den Eltern, mit und unter den Kindern gegeben. Von diesen Auseinandersetzungen habe ich nichts mitbekommen. Ich bin aber sehr froh, dass mir das Vertrauen entgegengebracht wurde, und mir die Eltern von den Auseinandersetzungen der ersten Wochen erzählt haben. Nach circa drei Wochen war das Thema vom Tisch: „Ja doch, der David ist immer noch laut im Unterricht, aber ich höre das gar nicht mehr.“ „Du hattest recht: jetzt denke ich gar nicht mehr, dass da ein Behinderter kommt, sondern dass der David kommt.“

David wurde ein gleichwertiger Teil der Klassengemeinschaft. Er wurde behütet, bestaunt, ernst genommen, beschimpft, geneckt...

Ich konnte immer wieder beobachten, dass seine Mitschüler*innen ihn im Vorbeigehen immer kurz berührten.

  • Ein Lehrer, der mit ihm wie mit einem Kleinkind sprach, wurde von ihnen zurechtgewiesen, dass er doch bitte altersgerecht mit ihm sprechen sollte.
  • Während der ohrenbetäubende Lärm des Feueralarms David vor Angst in die Streckspastik versetzte, holten vier Mitschüler zügig, aber routiniert die Rettungstrage vom Schrank und brachten ihn drei Minuten später die Treppe hinunter auf den Schulhof.
  • Wenn im Sportunterricht besprochen wurde, was in der Stunde passieren soll wurde gleich mitüberlegt was Davids Part ist.
  • Wenn die Schulbegleitung für sich Pause machte, waren es gerade die coolen Jungs, die ihn über den Schulhof schoben. Und wenn dann dabei mal ein Rap gepoost wurde, musste er sich auch mal einen heftigen Tritt in den Rollstuhl gefallen lassen.
  • Während der Gesamtschulzeit kamen immer wieder Journalist*innen um Radiofeatures oder Filme zu erstellen. Der Film „Inklusion im Klassenzimmer“ der Medienwerkstatt Wuppertal wurde in einem Kölner Kino gezeigt. Die Schüler*innen waren so stolz auf ihn aber auch auf sich selber.
  • Die Abschlussfahrt in der 10. Klasse habe ich David nicht erlaubt. Es ging nach Südfrankreich. Ich denke es war o.k. damals den Lehrer*innen zu sagen, dass sie gerne weit wegfahren sollen. Wenn wir von Respekt gegenüber behinderten Menschen sprechen, muss das auch bedeuten, ihnen auch unschöne Dinge zumuten zu müssen. Auch David musste hin und wieder einen Preis zahlen für die Inklusion. Allerdings hat die ganze Klasse dann doch noch eine gemeinsame Abschlussfahrt gemacht: Die Malteser Köln haben allen zusammen eine Reise in die Eifel geschenkt. Es ging in einen Kletterpark und David wurde von seinen Mitschüler*innen mitsamt Rollstuhl gefühlte 50 Meter in die Höhe gezogen. Ich durfte auch mit, und so habe ich alle zusammen noch einmal erleben dürfen. Wie sie mit David umgingen. Respektvoll, auf Augenhöhe aber dennoch mit einem gesunden Egoismus. Sie waren stolz auf sich und auf David.

Das Ende

Während ich den Bericht hier verfasse, ist passiert, was passieren sollte: Am Freitag, den 13. März 2020 um 00:03 Uhr ist David gestorben. Ein Routineeingriff in der Klinik. Die Schüler*innen bekamen an diesem Freitag nicht nur die Information, dass es den Corona bedingten Lockdown gibt, sondern auch, das David gestorben ist. Drei Monate vor Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit.

Sie waren glücklich, an dem Tag noch zusammen gewesen zu sein, haben sich danach aufgeteilt und Mitschüler*innen zu Hause besucht, die an dem Tag krank waren.

Wir hatten das Glück, dass David noch fünf Tage lang im Abschiedsraum des Kinderhospiz Olpe sein konnte. Am Sonntag kamen dann die Schüler*innen ins Kinderhospiz, um sich von David zu verabschieden. Sie weinten und lachten. Sie erzählten sich gemeinsame Geschichten und fragten sich, wie es jetzt weitergehen soll ohne David. Das Team des Kinderhospiz war beeindruckt: noch nie gab es so eine Situation, dass so viele Jugendliche da waren, um sich zu verabschieden.

Die Beerdigung fünf Wochen später war unter Corona-Bedingungen. Wir konnten keine Einladungen aussprechen. Dennoch waren rund hundert Menschen vor Ort, die mit dem gebotenen Abstand rund um David spazieren gingen. Die Schüler*innen haben Fußspuren ausgeschnitten und beschriftet. Sie lagen überall auf der Wiese herum.

David hatte die beste Zeit der Welt. Und er hat seine Aufgabe übererfüllt: Er hat seine Mitschüler*innen nicht nur klüger gemacht, sondern auch besser.

Ich möchte jetzt die Schüler*innen und Lehrer*innen sprechen lassen und aus den Briefen, die ich nach seinem Tod bekommen habe zitieren:

  • „David hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Er findet niemals mehr einen schöneren Platz als in unserer Klasse“
  • „Wenn es still war, da kam ja meistens dein großer Einsatz und dann mussten wieder alle lachen. Das gefiel dir am besten. Uns auch.“
  • „Die Erinnerung an dich ist schön und tut gut. Du hast meinen Alltag im allerbesten Sinne häufig durchbrochen und deine Klasse mit unsichtbaren Fäden umspannt.“
  • „Du bist und bleibst ein Meilenstein in meinem Leben und mit deinem Tod hast du ihn noch tiefer in meinem Leben verankert.“
  • „Ich werde dich vermissen! Dich als Klassenkamerad gehabt zu haben ist etwas Besonderes und hat mich sehr bereichert, weil du einfach da warst. Ich habe über dich gestaunt, gedacht und auch mal gelacht, wenn du mal wieder aus dem Nichts lustige Sachen gemacht hast.“
  • „David weiß sehr viel über mich, ich habe ihm immer alles erzählt. Und von ihm und auch mit ihm habe ich viel gelernt sowohl schulisch als auch für das Leben.“
  • „Es ist unheimlich wertvoll, einen guten ZUHÖRER zu haben. DANKE, dass du uns so oft so gut zugehört hast.“
  • „Du bist der Beste.“
  • „Nicht nur ich war für dich da, auch wenn es mir schlecht ging, warst du für mich da, hast meine Hand gehalten, ganz fest gedrückt und mir zugehört.“
  • „Was die Gemeinschaft mit dir vermittelt hat, kann kein Unterrichtsfach der Welt vermitteln.“
  • „Dank dir hat sich mein Sozialverhalten verbessert – ich weiß jetzt, nicht reden zu müssen, um sich verstehen zu können.“
  • „Leider hatte ich nicht so viel Zeit gehabt dich kennen zu lernen, aber ich hatte genug Zeit um zu merken, was für ein wunderbarer Mensch du bist und was für eine tolle Stimmung du in die Klasse gebracht hast.“
  • „Ich danke dir für 6 wunderschöne Jahre mit dir. Durch dich sind wir die Menschen, die wir heute sind, Du hast uns gezeigt, dass alle Menschen besonders sind. Wir vermissen dich.“
  • „Ich danke dir für all die Dinge, die du mir beigebracht hast. Die mir kein anderer beibringen konnte.“
  • „Du hast uns gezeigt, dass und wie es geht: Schule alle zusammen“
  •  „Auch wenn nichts für immer bleibt – es wird immer so gewesen sein“
  • „Wem soll ich denn jetzt vorlesen?“
  • „David hat dazu beigetragen, dass der Umgang mit schwerst-mehrfach-behinderten Menschen für uns alle zur Normalität wurde.“
  • „Was hatten wir für ein Glück, dich in unserer Klasse zu haben!“
  • „Du hast die Schulgemeinde bunter gemacht und uns gezeigt, was schon inklusiv geht und woran wir alle noch weiterarbeiten müssen.“
  • „David hat alle seine Mitschüler*innen zu besonderen Menschen gemacht.“
  • „Für uns warst du nicht eine Person, die man besonders behandeln muss, sondern einer von uns.“
  • „Du hast immer wieder aufs Beste bewiesen, was möglich ist, wenn man nicht auf die hört, die sagen, was nicht geht.“
  • „Du hast uns allen seit dem ersten Tag immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.“
  • „Ich bin stolz, dass ich deine Lehrerin sein durfte. Du warst immer eine Unterstützung. Viele Kinder konnten sich an dir „festhalten“. Du hast uns viel beigebracht.
  • „Einen großen Applaus für dich.“
  • „Ich habe es sehr genossen dir immer Mathe erklären zu dürfen.“
  • „Du hast mich zu einer vehementen Verfechterin der Inklusion gemacht. Du hast der Welt gezeigt, dass dein Platz und der Platz aller Kinder an einer Regelschule ist.“
  • „Danke, David, dass du entgegen allen Erwartungen vieler die Inklusion so gerockt hast. Denn das hat auch mir die Möglichkeit gegeben, dich kennen zu lernen“
  • „Du wirst zwar nicht mehr da sein, aber du wirst immer in meinem Herzen bleiben.“
  • „Du warst ein großer Anker in meiner Schulzeit. Immer wenn du da warst, habe ich mich wohl gefühlt.“
  • „Du hast der Welt gezeigt was Inklusion ist und sie damit ein Stück besser gemacht! Und auch jetzt ist deine Arbeit nicht vorbei. Sie wird auf ewig Früchte tragen.“
  • „Wer von wem gelernt hat ist wirklich die Frage – wahrscheinlich hatten wir beide viel voneinander.“

Hier alle Beiträge zu #15Jahremittendrin lesen:

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Grafik, die in der Mitte geteilt ist, rechts ein Foto von David Reinle, ein Junge mit Behinderung, er lacht mit weit geöffnetem Mund, er trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck “Life is short”. Links eine gelbe Farbfläche mit Text: #15Jahremittendrin. Inklusion & ich: “Was soll das, ein Kind wie David auf die Regelschule zu schicken?” fragen viele Menschen. Anna Lingscheid und David Reinle

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