Inklusion ist kein Luxus

/ Denise Linke

Vor dem Gesetz und vor Gott sind alle Menschen gleich, so steht es im Grundgesetz und in der Bibel. Schöne Idee eigentlich.

Natürlich sind wir nicht alle aus einer Form gegossen und bei genauer, oder sogar ungenauer Betrachtung, ziemlich verschieden. Wir sind nicht gleich, aber wir sind gleich viel wert. In der Theorie. Das ist auch der Inklusionsgedanke. So neu ist der nämlich gar nicht.

Inklusion ist, wenn jeder Mensch die gleiche Chance bekommt. Was für ein wohlklingender Allgemeinplatz. Leider wird er selten verstanden. Von Gleichmacherei ist dann die Rede, davon, dass nun einmal nicht jeder Mensch gleich sei. Dass die gleiche Chance zu haben nicht heißt, dass jeder sie gleichermaßen zu nutzen vermag, ist offenbar ein schwer greifbares Konzept. Dabei ist es ganz leicht.

Nehmen wir zum Beispiel Anna und Lisa. Anna ist nicht behindert, Lisa ist blind. Sie gehen in dieselbe Klasse. Ihr Lehrer, Herr Meier, möchte, dass alle Schüler*innen, auch Anna und Lisa, eine Hausaufgabe erledigen. Dafür sollen sie Goethes Faust lesen und den Inhalt auf einer halben Seite zusammenfassen. Herr Meier hasst das 21. Jahrhundert und entziffert in seiner Freizeit gern unlesbare Handschriften und möchte deswegen, dass alle Schüler*innen die Aufgabe per Hand erledigen. Das ist weniger weit hergeholt, als man meinen würde. Ich zumindest hatte solche Lehrer. Anna setzt sich nach der Schule hin, googlet den Faust und krakelt mit ihrer Sauklaue gelangweilt eine halbe Seite aufs Papier. Lisa hört sich Goethes Meisterwerk als Hörbuch an, hat vielleicht sogar einen hellen Gedanken, eventuell sogar einen helleren als Anna, kann ihn aber nicht adäquat aufschreiben, weil sie zum Schreiben einen Computer braucht. Anna und Lisa haben nicht dieselben Chancen, unabhängig davon, was am Ende als Ergebnis rumkäme.

Behinderte Menschen sind nicht automatisch doof

Behinderte Menschen sind nicht automatisch doof. Ich weiß, das kommt für viele als Schock und manche müssen es sicher kurz sacken lassen. Nehmen Sie sich die Zeit.

Wir sind eine zutiefst segregierte Gesellschaft. Menschen mit Behinderung finden für Viele im Alltag nicht statt. Wie viele behinderte Menschen kennen Sie? Mit wie vielen waren Sie in einer Klasse, wie viele sind ihre Nachbarn, wie viele arbeiten in Ihrem Büro? Die meisten Menschen, die ich das im persönlichen Gespräch frage, erzählen mir, dass der Onkel der besten Freundin ihres Steuerberaters im Rollstuhl sitzt. Und dass ihr Nachbar ein Hörgerät trüge, aber der sei über 80, man wisse also nicht genau, ob der dann trotzdem behindert, oder einfach nur alt sei.

Von 80,6 Millionen Deutschen sind 10,2 Millionen behindert. Das ist im Prinzip jeder achte. Das habe ich ganz fix ausgerechnet, obwohl ich behindert bin. Fast 13% der Bürger in diesem Land haben irgendeine Behinderung. Ist jeder Achte an Ihrem Arbeitsplatz behindert? In Ihrer Straße? In Ihrem sonntäglichen Töpferkurs? In der Schlange beim Bäcker? Beim Gottesdienst? Irgendwo?

Nein.

Jeder achte ist behindert – aber unsichtbar

Behinderte Menschen sind unsichtbar. Wir werden, wenn wir Pech haben, von Kindesbeinen an weggeschoben, dahin, wo man uns nicht ansehen muss. Auf unsere eigenen Schulen, in unsere eigenen Wohnheime und in unsere eigenen Werkstätten und später dann in Altenheime, in denen wir nicht auffallen, weil da keiner mehr so richtig ganz und heil ist.

Es gibt sicherlich behinderte Menschen, die gern auf ihre eigenen Schulen gehen, in die sie mit ihren eigenen Bussen gefahren werden und die freuen sich dann auch, wenn sie in ihrer eigenen Werkstatt ihre eigenen Dinge tun können. Es gibt Menschen mit Behinderung, die nicht inkludiert werden wollen. Das kann man diskutieren, bis man grün im Gesicht wird. Das ändert sich nicht. Und das ist vollkommen okay so.

Und dann gibt es uns. Behinderte Menschen, die gern einen Abschluss wollen, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt sehen, allein wohnen und eine Familie gründen wollen, ohne dass jemand sie bevormundet. Behinderte Menschen, die das schaffen können.
Wenn man uns in eigene Schulen, eigene Busse, eigene Werkstätten sperrt, dann nimmt man uns etwas weg. Ohne Grund. Gegen das Grundgesetz. Und viel schlimmer noch: man nimmt der Gesellschaft etwas weg.

Vielleicht sind Behinderte, die nicht die Glühbirne erfunden haben, auch wertvoll

Stellen Sie sich vor, Beethoven hätte in einer Werkstatt gearbeitet. Oder Einstein wäre auf eine Sonderschule gegangen. Thomas Edison. George Washington. Frida Kahlo. Stephen Hawking. Dem hat auch keiner den Stift entrissen, als seine Muskeln begannen zu versagen. Sie alle waren auf die ein oder andere Art behindert. Und sie alle haben der Welt Dinge beschert, die sie liebend gern annahm. Aber vielleicht, ganz vielleicht, sind behinderte Menschen, die nicht die Glühbirne erfunden haben, auch wertvolle Mitmenschen. Genau wie ein Nichtbehinderter auch okay ist, wenn er noch keinen Literaturnobelpreis gewonnen hat. Ganz vielleicht sollten wir uns einfach alle mit Menschlichkeit und Wärme begegnen. Und da ist Chancengleichheit und Miteinander wirklich das absolut mindeste.

Wir haben es nicht nötig, in einer darwinistischen Gesellschaft zu leben. Mehr noch, wir können es uns nicht leisten. Wir brauchen Vielfalt, um vielfältige Lösungen für vielfältige Probleme zu finden. Inklusion ist kein Luxus, sie ist unabdingbar um vorwärts zu kommen, wirtschaftlich sowie menschlich. Unsere Vorfahren wussten das entweder, oder sie sind gar nicht auf die Idee gekommen, den Wert von Menschen mit Behinderung in Frage zu stellen. Sich gegen Inklusion zu stellen ist rückwärtsgewandtes Denken, es gab Hass und Angst behinderten Menschen gegenüber oft in der Menschheitsgeschichte. Das sind allerdings nicht unbedingt die Abschnitte, an denen wir uns moralisch orientieren sollten. Das ist, so hoffe ich inständig, Konsens.

Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.

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Zum Film DIE KINDER DER UTOPIE

Foto: Gesellschaftsbilder Andi Weiland

Eine junge Frau mit blonden Haaren steht vor einer Betonwand.

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  • Wozu Inklusion?