NRW: Großer Handlungsbedarf, besonders im Bereich Schule

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat die Verbände der Zivilgesellschaft zu einer Konsultation eingeladen, um sie zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen zu befragen. Fazit der Sitzung am Mittwoch 25. April 2018 in Duisburg:

Auch wenn NRW bisher mehr Anstrengungen unternommen hat als andere Bundesländer: Es besteht großer Handlungsbedarf, besonders im Bereich Schule.

Der mittendrin e.V. koonstatiert in seiner Stellungnahme ein dramatisches Vollzugsdefizit bei der inklusiven Bildung. Während das Schulgesetz des Landes vorschreibt: "sonderpädagogische Förderung findet in der Regel in der allgemeinen Schule statt", lernen immer noch die Mehrheit aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung oder sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen. Die Zahl der Schüler*innen an Sonderschulen sinkt kaum. Zudem werden gerade Eltern von Kindern mit Schwerbehinderung massiv gedrängt und "beraten" ihre Kinder in Sonderschulen anzumelden. In seiner mündlichen Stellungnahme schilderte der Verein Fälle, in denen Eltern gedrängt werden, einer Abschulung ihrer Kinder aus "inklusiven" Schulen an Sonderschulen zuzustimmen.

mittendrin e.V. vermisst auch weiterhin ein umfassendes Konzept zur Bewusstseinsbildung und zur Lehrerfortbildung für Inklusion. Für viele Kinder und Jugendliche bleibt der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung in der Realität nicht einlösbar. In den Schulen ebenso wie in der öffentlichen Debatte werde der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung ebenso wie der im Schulgesetz verankerte Grundsatz, dass sonderpädagogische Förderung in der Regel in der allgemeinen Schule stattfinde, durchgängig relativiert. Vehikel dieser Relativierung ist das sogenannte "Elternwahlrecht". Mit diesem Begriff wird suggeriert, dass Inklusion oder Exklusion beliebige Alternativen seien. Der Begriff verschleiert, dass es für viele Betroffene bis heute kein Angebot an guten inklusiven Schulen gibt und sie darum gar keine Wahl haben.

 

Verbände wie der Inklusionsfachverband Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V. und der mittendrin e.V. sehen die Ursachen dafür schon bei der Politik der vorherigen Landesregierung. Es habe Versäumnisse in der Steuerung von Personal und Qualität gegeben und es habe an einer breit angelegten Fortbildung und Bewusstseinsbildung für Inklusion gefehlt. Dazu kam der Mangel an Lehrern und Sonderpädagogen in den allgemeinen Schulen.

Unter der neuen Landesregierung sei bisher keine Besserung in Sicht. Die aktuelle Schulpolitik ist nach Ansicht des GLGL-Vorsitzenden Bernd Kochanek „von Stagnation und Abwarten geprägt. Die ersten Positionierungen und Weichenstellungen der neuen Ministerin lassen allerdings den Schluss zu, dass nicht due Fehler der Vorgängerregierung nicht korrigiert werden, sondern zusätzliche und unnötige Bremsen in die ohnehin bislang nicht konsequent verfolgte Politik zu inklusiven Lebensverhältnissen zu kommen eingebaut werden.“

Auch der Inklusionsfachverband Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V. hat eine Stellungnahme abgegeben.

Die Verbände der Sinnesbehinderten schilderten in der Konsultation, dass in den Schulen nach wie vor das Verständnis und auch die Ressourcen fehlen, auf die besonderen Lernbedürfnisse der Schüler*innen mit Sinnesbehinderung einzugehen. Der Verband der Gehörlosen und der Gebärdensprachgemeinschaft wies darauf hin, dass das Schulfach Gebärdensprache immer noch nicht eingeführt wurde, und dass selbst in den Sonderschulen bis heute die allermeisten Lehrer der Deutschen Gebärdensprache nicht mächtig sind.

 

Neue Landesregierung bisher untätig

Aus Anlass der Verbändeanhörung kritisiert mittendrin e.V. auch die Untätigkeit der vor einem Jahr angetretenen Landesregierung beim Aufbau eines inklusiven Schulsystems:

Den vollmundigen Ankündigungen die Qualität inklusiver Schulen deutlich zu verbessern, hat Schulministerin Yvonne Gebauer auch nach zehn Monaten im Amt bisher keinerlei Taten folgen lassen. „Für die Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung ist dies ein weiteres verlorenes Jahr“, sagt die Vorsitzende des Elternvereins mittendrin e.V., Eva-Maria Thoms.

Die Ministerin hatte bei Amtsantritt angekündigt, inklusive Schulen personell besser auszustatten, das Fortbildungsangebot deutlich auszubauen und unter den weiterführenden Schulen gut aufgestellte inklusive Schwerpunktschulen einzurichten. Zu keiner dieser Ankündigungen sind bis heute Konzepte oder Gestaltungsideen bekannt geworden. In der geplanten Personalversorgung für das kommende Schuljahr werden inklusive Schulen sogar abermals benachteiligt. Während für die Sonderschulen eine gesicherte Zuteilung von Sonderpädagogen geplant ist und sogar neue Stellenpakete für „Mehrbedarfe“ vorgesehen sind, sollen die Personallücken in inklusiven Schulen offenbar ausschließlich durch nicht-lehrendes Personal (Sozialpädagogen o.ä.) gestopft werden.

Auch wenn die Ministerin die geplanten Schwerpunktschulen erst zum Schuljahr 2019/20 einführen will, müsste man doch längst Konzepte erwarten können, wie in diesen Schulen eine gute inklusive Bildung aufgebaut werden soll. Auch die Fortbildung der Schulleitungen und der Lehrkräfte an diesen Schulen müsste jetzt schon konzeptioniert und geplant werden. „Es steht zu befürchten, dass auch an diesen Schwerpunktschulen die Inklusion der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung wieder mit der heißen Nadel vorbereitet wird“, sagt die mittendrin-Vorsitzende Eva-Maria Thoms.

Großer Handlungsbedarf auch in anderen Lebensbereichen

 Zu den großen Themen der anderen geladenen Verbände gehörten Fragen des Wohnens. Die Sozialverbände SoVD und VdK beklagten ebenso wie die Initiative selbstbestimmt Leben IsL NRW, dass die neue Landesregierung bereits ausgehandelte Verbesserungen der Landesbauordnung in Sachen Barrierefreiheit wieder kassiert hat.  Immer noch können öffentliche Gebäude geplant und gebaut werden, die nicht für alle Menschen zugänglich sind. Auch einer Verpflichtung von Bauherren zum Bau bestimmter Anteile barrierefreien Wohnraums entzieht sich die Regierung. Gelegentlich wird sogar behauptet, es sei dafür kein Bedarf nachweisbar.

Thema war auch die zum Teil dramatische Benachteiligung von Menschen mit Behinderung in der medizinischen Versorgung.

Die Entwicklung im Land seit Rechtsgültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention fasst Horst Ladenberger von IsL NRW zusammen: Zwar sei in NRW die Bereitschaft gewachsen, die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung voran zu bringen, doch gleichzeitig seien auch die Widerstände gewachsen. Statt Politik im Sinne eines "universal design" für alle Menschen zu planen, werde allzu oft die Barrierefreiheit als Sonderbedarf hinterhergeschoben und dann unter der Frage der Kosten disktutiert.

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