Praxistest "Elternwahlrecht" #5

Wenn's um Inklusion in der Schule geht, sind Viele Anhänger eines "Elternwahlrechts". Und die konstanten Anmeldezahlen an den Sonderschulen dienen oft als Beleg dass Eltern Inklusion gar nicht wollten. Aber ist die Anmeldung an der Sonderschule wirklich Ausdruck einer freien Wahl? Wir gehen dieser Frage in einer kleinen Serie nach. Heute Folge #5

Wir werden jetzt zur anderen Seite gerechnet

Die ersten drei Jahre auf der Gesamtschule hat Stefan sich wirklich sehr wohl gefühlt – und wir als Eltern auch. Die Lehrer waren einfach entspannt, auch die Regelschullehrer. Es war ein freundliches Klima und die Lehrer haben mehrfach klar gestellt, dass für sie ein Wechsel an die Sonderschule definitiv nicht im Raum steht. Ich erinnere mich, als Stefan sich einmal daneben benommen hat und ich gleich einen Schreck bekam, weil das an der Grundschule stets Anlass war anzumerken, ob ein Wechsel an eine Sonderschule vielleicht doch besser wäre. Statt dessen kam der Satz: „Das müssen wir auch einmal aushalten.“ Es war so schön, endlich von der Dankbarkeitsschiene runterzukommen und zu erfahren, dass er einfach da sein darf.

Wie es kam, dass ich ihn jetzt im Januar an der Förderschule für Geistige Entwicklung angemeldet habe? Vor einem Jahr, beim Elternsprechtag vor den Sommerferien, wurde mir im Einzelgespräch von der Teamleiterin der Mittelstufe mitgeteilt, dass Stefans Sonderpädagogin an eine andere Schule versetzt werde. Man habe noch keinen Ersatz. Und dann kam auch gleich die Empfehlung, wir sollten doch mal überlegen, ob für Stefan nicht ein anderer Förderort besser sei.

Als nach den Ferien die 8. Klasse begann, dachte ich noch, das könnte sich wieder regeln. Es gab zwar tatsächlich keinen Ersatz für die Sonderpädagogin, aber die Lehrer in Stefans Klasse blieben freundlich. Aber irgendwann fiel mir auf, dass sich niemand mehr so richtig um adäquaten Lernstoff für Stefan kümmerte. Er war von seinen Aufgaben sehr oft unterfordert oder gnadenlos überfordert. Er fing an, sich immer öfter störend zu verhalten und dann ging auch schon einmal etwas kaputt. Einmal war es ein Rührgerät. Das war wohl seine Art auf sich aufmerksam zu machen.

Was noch kaputt ging? Ich kann mich im Moment gar nicht erinnern, was es noch war. Wenn ich das jetzt so erzähle, fällt mir auf, dass ich aus dieser Zeit anscheinend viel verdrängt habe. Entschuldigung, aber beim Erzählen kommt das alles gerade wieder hoch. Es war eine – Entschuldigung – richtige Scheiß-Zeit, die damals begann. Immer öfter hat die Schule mich zum Teil um 11 Uhr vormittags am Arbeitsplatz angerufen. Stefan habe dies oder jenes getan und ich solle ihn jetzt sofort abholen. Das müssen Sie mal auf Dauer Ihrem Chef erklären.

Mit den Mitschülern lief es auch da noch gut: Im Freibad wurde Stefan von Hinz und Kunz mit einem lässigen "Hi" gegrüßt, und er nur ganz lapidar: "Och, den kenn ich aus der Schule …", und erst als er sich so oft daneben benommen hat, waren die anderen vielleicht auch mal genervt. Aber das wären wir mehr als bereit gewesen, auszuhalten. Nur das ewige vorzeitige Abholen während der Arbeitszeit war sozusagen die Daumenschraube. Ich konnte meiner Arbeit nicht mehr richtig nachgehen und er hat jede Menge wertvollen Lernstoff verpasst. So ging das Woche um Woche und das hat mich nervlich so angespannt, dass mir beim Abholen einmal der Kragen geplatzt ist. Die Lehrer waren völlig empört, unter dem Motto: „So geht das nicht, Sie können doch jetzt nicht dem Kind die Schuld geben“. Ich war mit meiner Kraft zunehmend am Ende. Und ich war verzweifelt.

Die tolle Haltung der Schule war restlos weg. Ich hab beim Schulamt um Hilfe gefragt, dann bei der Schulaufsicht. Alles vergebens. Das Schulamt hat der Schule sogar eine Sozialarbeiter-Stelle angeboten. Die wollten sie auch annehmen, betonten aber, dass damit das Problem mit Stefan nicht gelöst werden könnte. Der Schriftwechsel mit der Schulaufsicht bei der Bezirksregierung endete auch enttäuschend. Sie könnten uns nicht weiter helfen. Bei anderen Schulen habe ich auch gefragt. Die haben abgewunken.

Schreiben des Schulamtes:

Die Schule sieht sich (…) „unter den gegebenen Umständen“ nicht in der Lage, Ihren Sohn „bedürfnisgerecht zu fördern. (…) Deshalb wird den Eltern (...) dringend der Wechsel in eine Förderschule empfohlen. So wie ich es verstanden habe, wird diese Empfehlung auch von der Oberen Schulaufsicht unterstützt. (…) Schulträgerseitig habe ich in diesen Fällen weder rechtlich noch tatsächlich eine Möglichkeit des Eingreifens.“

Vor Weihnachten war ich so weit, dass ich bei der Sonderschule angerufen habe, ob wir hospitieren können. Die haben mich erst einmal abgewimmelt und gesagt, dass ein Schulwechsel wenn überhaupt erst zum nächsten Schuljahr möglich sei. In der Gesamtschule haben sie währenddessen schon gefragt, wann Stefan endlich wechselt. Die Botschaft war offensichtlich: HAUT BLOSS AB!Als ich gesagt habe, dass das erst zum nächsten Schuljahr geht, haben die den Schulwechsel ganz fix selbst klargemacht. Sie haben einen Hospitationstermin organisiert, und nachdem die Woche um war, hat die Förderschule mir das Papier vorgelegt. Mir war ja zu dem Zeitpunkt durchaus sonnenklar, dass ich das nicht hätte unterschreiben MÜSSEN. Ich hab's dennoch getan. Mir fehlte die Kraft, mich noch zu widersetzen.

Schreiben der Bezirksregierung:

„Ich stimme Ihnen zu, dass wir aus verschiedenen Gründen noch weit entfernt von einem umfassend inklusiven Schulsystem sind, sehe aber unter den gegebenen Bedingungen, insbesondere der Schulstruktur und dem Fachkräftemangel, keine Möglichkeit für substantielle Änderungen.“

Ich habe das als persönliche Kränkung erlebt, so abgeschmettert zu werden. Andererseits war ich froh, dass Stefan überhaupt wieder ordentlich zur Schule gehen kann. Der Zustand an der Gesamtschule war am Ende ja nicht mehr lebbar. Obwohl ich heute noch überzeugt bin, dass er dort mehr gelernt hätte. Was ich von der Sonderschule mitbekomme, überzeugt mich nicht. Ich höre immer nur, dass sie frühstücken und trommeln und tanzen. Die Hefte kommen nicht mit nach Hause, Aufgaben sowieso nicht. Ich rede auch mit Stefan darüber, er ist ja schon 14 Jahre alt. Ich sage ihm, dass ein Englisch-Kurs wahrscheinlich nicht zusammen kommt. Englisch hat er sehr gern gemacht. Und was ist überhaupt mit Erdkunde? Ist das an der Sonderschule überhaupt vorgesehen? Stefan hat doch ein Recht auf Bildung. Ich habe nicht das Gefühl, dass das an dieser Schule besonders ernst genommen wird.

Das, was die Förderschule nicht leistet, leiste ich jetzt. Vor allem Erdkunde, Gesellschaftslehre, Arbeitslehre, Geschichte, Englisch, Französisch … vielleicht nicht auf Gesamtschulniveau, aber so, wie ich es für richtig halte und meinem Kind zutraue und vermitteln kann. Er hat ein verdammtes Recht darauf, und ich werde nicht zulassen, dass er sich für dumm verkaufen lässt, und auch ein Mensch mit Down-Syndrom benötigt Zugang zur sogenannten Allgemeinbildung. Es ist ein Verbrechen, ihm dies vorzuenthalten.

Was mich auch wahnsinnig macht, ist dass wir mit unserer erzwungenen Anmeldung an der Sonderschule jetzt auch noch dazu beitragen, dieses System zu zementieren. Wir werden jetzt zur anderen Seite gerechnet, zu denjenigen, die angeblich in freier Wahl die Förderschule genommen haben. Wo ist eigentlich unser Elternwahlrecht? Das ist doch von vorn bis hinten erlogen!

Anonym

Ostwestfalen

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