Frau Professorin Schöler, als Erziehungswissenschaftlerin, Dozentin und Expertin haben Sie viele Schulen und Familien zum Thema Inklusion beraten, haben inklusive Schulen mitgeplant, waren Gutachterin zum Thema “Gemeinsamer Unterricht” für den Bundestag und verschiedene Länderparlamente, Sie haben den Jakob-Muth-Preis für inklusive Schule initiiert, sind von Beginn an in dessen Jury und vieles mehr – man kann sagen, Sie haben einen wirklich reichen Erfahrungsschatz zum Thema Inklusion an Schulen gesammelt.
Eine Frage bewegt viele Lehrer*innen und Eltern: Kann es im Gemeinsamen Lernen zu Problemen kommen, wenn die Schüler*innen unterschiedliche Bedürfnisse, Lerngeschwindigkeiten und Interessen haben? Oder kann man das umdrehen und sagen: Es kommen unterschiedliche Fähigkeiten zusammen, die sich ergänzen können?
Welche Rolle spielen Schüler*innenkompetenzen für die Inklusion in der Schule?
Schüler*innenkompetenzen spielen eine große Rolle, denn die Bedeutung von Kindern für Kinder ist enorm. Die größte Motivation für Kinder etwas zu machen oder zu schaffen entsteht, wenn Kinder im Umfeld das Erstrebte schon können. Ein banales Beispiel: Wenn die anderen Kinder sich die Schnürsenkel binden können, möchte das Kind, das diese Fähigkeit noch nicht hat, das auch - und wird üben und üben.
Auch können Kinder Lernerfolge anderer Kinder anders wertschätzen als Erwachsene. Ein weiteres Beispiel: Wenn ein*e Schüler*in besonders lange brauchte um Lesen zu lernen, kommt von Lehrer*innen nicht selten eine Reaktion wie “Na endlich!” - während Kinder sich mitfreuen können “Juhu, du kannst es!”. Das heisst, der Blick der Mitschüler*innen ist orientiert auf das positive Erfolgserlebnis - und nicht auf das Defizit, dass das Lernen so lange dauerte. Und das ist für alle beteiligten Kinder eine positive Erfahrung: Das Kind, dem das Lesen schließlich gelingt, wird in seinem Können wahrgenommen, gestärkt und weiter motiviert - und die Mitschüler*innen können diesen Erfolg erkennen und mitfeiern.
"Juhu, du kannst es!"
Es ist empirisch bewiesen, dass schwache Schüler*innen die Unterrichtsqualität nicht verschlechtern. Es wird von Inklusionsgegner*innen zwar immer wieder behauptet, dass schwache Schüler*innen den Unterricht stören oder aufhalten, aber das sind pure Behauptungen, für die bisher keinerlei Beweise geliefert werden konnten.
Ebenso ist es empirisch bewiesen, dass schwache Schüler*innen durch leistungsstarke Schüler*innen motiviert werden und bessere Leistungen erreichen können. Deshalb gehören Schüler*inner mit Förderbedarf nach dem gemeinsamen Unterricht in der Grundschule nicht auf Hauptschulen, sondern auf Gymnasien, wenn es keine Gesamtschule am Ort gibt, die das gemeinsame Lernen weiter führt.
Aber es wird ja immer wieder befürchtet, dass behinderte Schüler*innen an Regelschulen gemobbt werden. Was antworten Sie auf solche Bedenken?
Ja, das habe ich schon oft gehört: Kinder seien grausam. Das stimmt nicht. Kinder sind nicht von sich aus grausam - aber es kommt vor, dass Kinder in einem Schulsystem, das auf Konkurrenz, Leistungsdruck und Angst basiert, grausam werden, neidisch werden, missgünstig werden.
In einem Schulsystem, in dem jedes Kind mit seinen besonderen Lernbedürfnissen wahrgenommen wird und sich individuell entwickeln darf, ist das anders. Kinder können durchaus verstehen, dass unterschiedliche Kinder eben auch unterschiedliche Lernziele haben. Das muss man ihnen erklären und dann gibt es keinen Neid, weil Hanna zum Beispiel den U-Bahnplan übt, während andere Kinder sich mit Klima- und Vegetationszonen der Erde auseinandersetzen. Kinder können verstehen, dass das alles seinen eigenen Wert und seine Wichtigkeit hat. Wichtig ist aber, dass die Lehrerinnen und Lehrer in dieser Haltung den Heranwachsenden ein Vorbild sind.
Was antworten Sie, wenn behauptet wird, “Inklusion hat Grenzen”?
Dann antworte ich: Die Grenzen der Inklusion sind dort, wo nicht alle Hilfsmittel ausgesetzt sind und nicht alle Lösungsideen durchdacht wurden. Und dann heisst es: Weitere Hilfsmittel nutzen und mit Innovationswillen und Sachverstand neue Lösungen entwickeln. Die Grenzen der Inklusion liegen nicht in der Art oder dem Grad der Behinderung eines Kindes.
"Grenzen der Inklusion liegen nicht in der Art oder dem Grad der Behinderung"
Ein Beispiel aus Italien, einem Land, in dem es seit etwa 40 Jahren keine Förderschulen mehr gibt: Dort kenne ich ein Kind, das im Koma liegt, das jeden Tag zur Schule gefahren wird und im Unterricht dabei ist. Die Mitschüler*innen haben die Aufgabe, regelmäßig zu schauen, ob es dem Kind gut geht und sind mittlerweile Expert*innen im Erkennen des Befindens des Kindes.
Inklusion findet dort selbstverständlich statt - ohne dass jemals die Frage gestellt wurde, ob ein Koma die Grenze der Inklusion ausmachen würde.
Was können nichtbehinderte Kinder durch behinderte Mitschüler*innen an inklusiven Schulen lernen?
Sie können für sich selbst erfahren, dass Verschiedenheiten eine Bereicherung im Leben darstellen. Sie lernen zu erkennen, wo Hilfe nötig ist und zu helfen - ohne zu entmündigen. Sie können lernen, wie man mit unterschiedlichen Fähigkeiten in einer Gruppe umgehen kann.
Und sie können die Kompetenz entwickeln, in einer Gruppe unterschiedlichster Menschen zu erkennen, welche Fähigkeiten - auch Spezialfähigkeiten - vorhanden sind und wie diese eingesetzt werden können.
Man muss sich immer dessen bewusst sein, dass pures Faktenwissen ohne soziale Intelligenz wertlos ist.
"Faktenwissen ohne soziale Intelligenz ist wertlos"
Und bei alledem müssen wir uns auch immer fragen: Was für eine Gesellschaft wünschen wir uns für die Zukunft? Welches Sozialverhalten sollen unsere Kinder lernen und später einsetzen? Wollen wir, dass unsere Kinder später “Anders sein” als Schwäche begreifen? Oder als Bereicherung im Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft?Denn die Schule von heute prägt die Erwachsenen von morgen.
Und schließlich ist Inklusion ein Menschenrecht. Es gibt keine Basis, auf der behinderte Menschen ausgeschlossen werden dürfen. Denn eigentlich gibt es keine behinderten Menschen: Behinderung ist lediglich eine Zuschreibung.
Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.