Berlin: Gar keine Bildung mehr für behinderte Kinder?

Es ist absurd: Während führende SPD-Bundespolitiker eine Initiative für die Gemeinsame Bildung von Kindern mit und ohne Behinderungen starten, streicht in in Berlin der Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD)

den Etatposten für Schulhelfer für Kinder mit Behinderung zusammen. Anstatt das Recht auf Integration umzusetzen, macht Berlin seinen behinderten Kindern nun sogar das Recht auf Bildung streitig. Die Eltern protestieren.

Begründung Zöllners: Er würde Schulhelfer aus den personell relativ gut ausgestatteten Sonderschulen abziehen, um behinderte Kinder in Integrationsschulen besser zu unterstützen. Tatsächlich wurden die Schulhelferstunden auch für Integrationskinder zusammen gestrichen.

Ergebnis: Viele Eltern müssen ihre behinderten Kinder nun früher aus den Schulen abholen - oder gleich selbst mit in die Schule gehen, um ihr Kind dort zu unterstützen. Integrationskindern, die auf einen Schulhelfer angewiesen sind, droht die Umsetzung in die Sonderschule.

Und das in einer rot-roten Koalition, deren Juniorpartner "Die Linke" mit dem Slogan "Eine Schule für alle" in den Wahlkampf zieht.

Auch der Behindertenbeauftragte der Stadt, Martin Marquard, beurteilt das Vorgehen der Schulverwaltung in seinem noch nicht veröffentlichten "Verstößebericht" als unzumutbar:

"Zum einen ist es völlig unverständlich und nicht hinzunehmen, dass ausgerechnet bei der Zuweisung von Schulhelferstunden versucht wird zu sparen - und das jedes Jahr aufs Neue. Schulhelferstunden für Schülerinnen und Schüler z.B. mit schwerstmehrfacher Behinderung oder mit frühkindlichem Autismus sind notwendig - ohne Wenn und Aber. Sie sind nicht frei disponibel und deshalb auch gerade gut kalkulierbar. Hier gibt es kein Ermessen, sondern einzig und allein die Frage: Kann das betroffene Kind - mit Schulhelferunterstützung - die Schule besuchen oder muss es - ohne diese Unterstützung - zu Hause bleiben? Mit anderen Worten: Gilt für diese Kinder die Schulpflicht, wie für alle anderen auch oder wird sie ausgesetzt? Können diese Kinder ihr Grundrecht auf Bildung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit wahrnehmen, wie alle anderen auch oder wird ihnen dieses vorenthalten?"

Der vollständige Bericht im Link

 

Allgemein zieht Marquard, der sein Amt nach zehn Jahren aufgibt, eine schlechte Bilanz der Berliner Schulpolitik: "Einerseits haben wir ein gutes Schulgesetz, das Inklusion fördert. Die praktische Umsetzung ist aber eine andere Sache - die endet wie so oft an den finanziellen Grenzen"

Auszug aus seinem Interview mit der taz:

Aber schon in der Schule fängt es an mit dem Aussondern. Zum Schulanfang gibt es gerade die Debatte, dass es nicht genug Schulhelfer gibt für Kinder mit Behinderung. Diese Diskussion kommt jedes Jahr wieder. Warum?

Es ist eine reine Geldfrage. Wir haben uns an den Schulsenator Jürgen Zöllner gewandt, dass dies schnellstens in Ordnung gebracht werden muss. Berlin hat eine sehr widersprüchliche Schulpolitik: Einerseits haben wir ein gutes Schulgesetz, das Inklusion fördert. Die praktische Umsetzung ist aber eine andere Sache - die endet nämlich wie so oft an den finanziellen Grenzen. Trotzdem haben wir 35 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Regelschule integriert.

Ist das ein guter Wert?

Der Durchschnitt in Deutschland liegt zwischen 15 und 16 Prozent.

Also fällt die Berliner Bilanz positiv aus?

Seit Jahren werden die Mittel nicht aufgestockt. Es gibt darum immer weniger Pädagogen für immer mehr bedürftige Kinder. Das ist für mich eine indirekte Kürzung. Aktuell fehlen mindestens 1,5 Millionen Euro für Schulhelfer für behinderte Kinder. Zur gleichen Zeit wird die Schülerkartei eingeführt und verschlingt Millionen. Da kann man sich fragen, was das soll. Insgesamt muss man leider sagen, dass wir im Bildungsbereich in den letzten zehn Jahren keine Fortschritte gemacht haben, eher Rückschritte.

Aber es gibt ja jetzt die UN-Konvention, nach der alle behinderten Kinder das Recht haben, gemeinsam mit Nichtbehinderten unterrichtet zu werden. Wie lange wird es dauern, sie umzusetzen?

Das ist die große Frage. Diese Konvention widerspricht dem deutschen, selektiven Schulsystem, das wir aus dem Kaiserreich übernommen haben. Es war für uns eine Genugtuung, als sie in Deutschland ohne Einschränkung ratifiziert wurde. Seit März ist sie nun in Deutschland in Kraft und muss in deutsches Recht umgesetzt werden. Jetzt reiben wir uns die Hände und sagen, dass sie umgesetzt werden muss. Das wird aber Jahre dauern. Wir haben zwar eine flächendeckende Integration behinderter Kinder im Kindergarten, eine sehr gute in der Grundschule; aber je höher man geht, desto weniger wird es. Es kann nicht sein, dass es nur einige Gymnasien in Berlin gibt, die Integration betreiben. Das heißt doch, wenn man behindert ist, bleibt man irgendwann auf der Strecke.

Das vollständige Interview Link
 

Inzwischen haben sich auch die Berliner SchulleiterInnen in der GEW dem Elternprotest angeschlossen:

"Alle Jahre wieder: Was ist dem Senat die Integration von Kindern mit Behinderung wert?

Seit Wochen gibt es Meldungen, dass die Ausstattung der Schulen mit Schulhelfern nicht ausreicht, um alle betroffenen SchülerInnen zu versorgen.

Die Schulleitervereinigung der GEW BERLIN (VBS) hat in dieser Woche eine Umfrage an Berliner Schulen zur Versorgung mit Schulhelfern durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass in 70 Prozent der allgemeinen Schulen die Stundenzuweisung nicht ausreicht. Die Kürzungen zum Vorjahr sind z.T. erheblich und viele Schulen geben an, die Beschulung der Kinder mit Behinderung nicht mehr verantwortlich gewährleisten zu können. Die Folge wird ein vermehrtes Umschulen in Sonderschulen sein.

Eltern sind in Sorge und Aufregung, Kinder verunsichert und schlecht bis gar nicht versorgt, Schulleitungen wieder einmal dabei, den Mangel gleichmäßig zu verteilen und Abhilfe zu fordern, SchulhelferInnen stehen mit stark gekürztem Einkommen da oder sind gekündigt. Das ist eine Zumutung!

1,5 Millionen Euro müsste der Senat zusätzlich investieren, um die gesellschaftlich und politisch gewollte Inklusion von SchülerInnen mit Behinderung in diesem Schuljahr sicher zu stellen. Eine vergleichsweise geringe Summe. Auch Berlin ist verpflichtet die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung umzusetzen und sich auf den Weg zu einer inklusiven Bildung zu machen.

Ellen Hansen, Schulleiterin der Werbellinsee-Grundschule: „Wir können es uns nicht leisten, jedes Schuljahr mit dem Streit um die notwendigen Ressourcen in so einem sensiblen Bereich zu beginnen. Wir erwarten, dass das Budget an den tatsächlichen Bedarf der korrekt gestellten Schulhelferanträge angepasst wird. Das Abgeordnetenhaus in der Gesamtheit seiner Abgeordneten muss die Entscheidung des Finanzsenators korrigieren!""

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