Christine Linnartz ist Dipl. Sozialarbeiterin, von Geburt an taub und arbeitet als zertifizierte EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) Beraterin und Coach bei der Beratungsstelle EUTB DeafGuideDeaf in Köln.
Sie war immer schon politisch aktiv: u.a. als Vizepräsidentin beim Deutschen Gehörlosenbund, als Kandidatin der Grünen für das Europaparlament und auf kommunaler Ebene engagiert, z.B. im Beirat der Menschen mit Behinderung in Wuppertal.
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Transkript des Interviews
Eine kleine Vorbemerkung für ZuschauerInnen mit einer Sehbehinderung, damit keine Verwirrung entsteht. Dies ist ein Interview mit Christine Linnartz. Sie spricht deutsche Gebärdensprache. Sie wird übersetzt von Thorsten Rose. Das heißt, Sie hören eine männliche Stimme. Wir sprechen aber mit Christine Linnartz.
Frage: Christine, Du bist eine gehörlose Frau mit einer akademischen Ausbildung. Davon gibt es nicht sehr viele. In der Schulausbildung muss etwas richtig gelaufen sein. Erzähl uns, wie es war, was hat Dir gefehlt, was hätte vielleicht noch besser laufen können?
Antwort: Als den einzigen positiven Aspekt aus dieser Zeit kann ich nur die Uni hervorheben. Die Zeit davor war wirklich die reinste Katastrophe. Es fing wie bei allen anderen auch mit der Gehörlosen-Grundschule an. Es begann in der zweiten Klasse, da stand an der Tafel: Da ist eine Maus und die Maus ist grau. Das war die Bildung, die ich genießen durfte. Ich habe dann auf die Schwerhörigenschule gewechselt. Da habe ich auch gar nichts verstanden. Ich habe alle Gespräch verpasst, die da gelaufen sind. Und ich habe mir dann alles selbst erschließen müssen. Ich musste um jedes einzelne Wort kämpfen. Ich musste lesen, lesen, lesen. Ich musste ständig nachfragen und sagen, dass ich es nicht verstanden habe. Anschließend Abitur: Keiner der Lehrer dort konnte Gebärdensprache. Ich war auf der Rheinisch-Westfälischen Berufsschule in Essen. Da konnte man das Abitur machen. Allerdings war da kein einziger Lehrer, der da irgendwie Gebärdensprache konnte. Ich habe gehofft, dass wenigstens an dieser speziellen Schule für Gehörlose, wo man Abitur machen konnte, irgendwas ist, aber keiner von denen konnte die Gebärdensprache. Dann bin ich zur Uni gewechselt und habe versucht, meine Dolmetscher zu beantragen, meine Dolmetscherkosten zu beantragen, habe mich mit dem LVR rumgestritten. Irgendwann nach dem dritten Semester kam die Bewilligung für die Dolmetscherkosten. Allerdings waren es zu dem Zeitpunkt noch keinen professionellen Dolmetscher, sondern Gehörlosendolmetscher, wie sie früher hießen. Nichtsdestotrotz konnte ich dann aber an Diskussionen und Debatten teilnehmen.
Frage: Heute versuchen wir ja Inklusion zu gestalten. „Wir“ ist zwar ein dehnbarer Begriff. Aber laut UN-Behindertenrechtskonvention soll es in Richtung Inklusion und inklusive Bildung gehen. Das heißt, auch für Kinder, die nicht hören, für gehörlose Kinder, für Kinder aus der Gebärdensprachgemeinschaft die Frage: Möchte ich auf eine allgemeine Schule gehen, wie und in welcher Form ist für mich Inklusion in der Schule wirklich möglich. Was wären aus Deiner Erfahrung Vorschläge, wie könnte Inklusion in der Schule gut funktionieren?
Antwort: Ich habe da zwei Perspektiven, aus denen ich das beleuchten möchte: Wenn man sich jetzt vorstellt eine Förderschule Schwerpunkt „Hören und Kommunikation“. Schon das Wort „Hören“ ist für uns Hörbehinderte nicht ganz so positiv. Es ist tatsächlich so, dass von allen Förderschulen, die es in Deutschland gibt, nur eine Handvoll den Unterricht bilingual anbieten. Berlin, Hamburg, Erfurt machen es, um nur ein paar zu nennen, wo es schon jetzt etwas besser läuft. Der Rest der Förderschulen hat tatsächlich gar keine Angebote in Gebärdensprache. Für mich heißt das, die Lehrer müssten erstmal Gebärdensprache beherrschen. Es gibt ja auch nicht ein bisschen schwanger. Also entweder, oder! Wenn Förderschulen bestehen bleiben sollen, dann müssten sie sich dahingehend verändern, dass sie gebärdensprachliche Angebote haben und die Gebärdensprache für das Personal auf C1-Niveau verpflichtend wird. Und es wäre hilfreich, wenn Gebärdensprache als Wahlpflichtfach angeboten wird. Oder auch „deaf-studies“. „Deaf-studies“ ist alles das, was die Hintergründe der Gehörlosigkeit betrifft, also Kultur und was Gehörlosigkeit bedeutet.
Wenn wir uns dann die Regelschulen anschauen, ist das auch ein gangbarer Weg. Allerdings sehe ich da die Problematik der Ausgrenzung. Es ist einfach so, dass das Personal in den Regelschulen noch nicht dahingehend ausgebildet ist, sich um die Bedürfnisse der Kinder zu kümmern. Behinderung ist so ein großer Begriff. Von daher finde ich, müsste das Ganze schon im Kindergarten anfangen. Da müssen wir schon loslegen mit dem ganzen Thema Behinderung, Diversity, um den Kindern da schon von vornherein das ganze Thema näher zu bringen. Nicht nur englisch, französisch, sondern auch Gebärdensprache im Kindergarten anbieten. Vielleicht auch in der Schule mit der Behindertenrechtskonvention anfangen und den Kindern so klarmachen, was es bedeutet behindert zu sein. Dass einfach der Sonderstatus der behinderten Kinder mal abgeschafft wird! Ich finde, dass es kein Sonderstatus mehr ist, den man hat. Wir haben jetzt seit zehn Jahren die Behindertenrechtskonvention. Es geht um die Rechte der einzelnen Menschen und das sollte im Vordergrund stehen.
Frage: Für Inklusion in der allgemeinen Schule schlagen wir gerne vor, dass zumindest an der Schule die Gebärdensprache ein Unterrichtsfach für alle sein sollte, damit auch die Teilhabe unter den Schülern klappt. Wäre das für Dich eine gute Möglichkeit für Inklusion?
Antwort: Selbstverständlich! Ganz klar! Gebärdensprache gehört in die Regelschulen. Gebärdensprache ist eine Sprache. Es ist eine gesetzlich anerkannte Sprache. Und es ist die Sprache der gehörlosen Kinder, der gehörlosen Menschen. Und deshalb ganz deutlich: Ja, es gehört auch dort hin!
Interviewerin: Gut, vielen Dank, Christine!
Antwort: Sehr gerne!
Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.