Warum meine nichtbehinderten Kinder eine inklusive Schule besuchen

/ Suse Bauer

Meine Kinder haben sehr unterschiedliche Schulen erlebt. Nicht alle haben ihnen gut getan. Am wenigsten die Schulen, in denen es um pure Leistung ging und soziales Miteinander unwichtig war.

Das Thema Schule und Inklusion hat mich bereits beschäftigt, als eine eigene Familienplanung für mich noch gar kein Thema war: Nach dem Abitur habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr an einer Förderschule gemacht, denn ich hatte die Idee, Sonderpädagogin zu werden. Doch je länger ich dort gearbeitet habe, desto mehr wuchs in mir ein Unbehagen – darüber, wie diese Kinder am Rande der Gesellschaft lebten. Und zwar buchstäblich: Die Förderschule lag im Speckgürtel einer deutschen Großstadt in einer Art Förderzentrum. Das war eine kleine Behinderten-Welt mit Rundum-Angebot für alle Lebenslagen: Förderschule, Internat, Wohngruppen, Pflegeheim, Tagesförderstätte und Berufsbildungswerk. Die Behindertenwerkstatt war auch nicht weit entfernt im Nachbarort.

Die Behinderten-Welt mit Rundum-Angebot

Ich hatte das Gefühl, dass die Zukunft dieser Förderschüler*innen bereits feststand: Wohnten die meisten jetzt noch im Internat neben dem Schulgebäude, würden sie nach Abschluss der Schule in die Wohngruppen im Nachbarhaus ziehen – im selben Gebäude, in dem das Berufsbildungswerk sie auf die Arbeit in der naheliegenden Behindertenwerkstatt vorbereiten würde. Für alte Menschen mit Behinderung und Menschen, die keiner Tätigkeit nachgingen, gab es ein Pflegeheim. Nach Abschluss des Sozialen Jahres stand für mich fest, dass ich nicht Teil dieses geschlossenen Systems werden wollte – und wählte einen anderen Studiengang.

Mit dem Thema Behinderung bin ich erst durch meine eigenen Kinder wieder in Berührung gekommen: Für unsere Tochter wählten wir eine Einrichtung mit inklusivem Konzept. Dort erlebte sie einen vollkommen selbstverständlichen Umgang mit Kindern, die verschiedene Behinderungen haben. Sie wusste schnell, was eine Magensonde ist – und dass unterschiedliche Kinder eben unterschiedliche Bedürfnisse haben. Das drückte sich auch in der Sprache der Erzieher*innen aus: Von Behinderung wurde selten gesprochen – das Thema wurde aber auch nicht verkrampft übergangen. Es ging einfach um Nina*, Joline*, Tim*, Kerem* und wie sie alle hießen – und bei einigen mussten ein paar mehr Details bedacht werden als bei anderen. Das war es auch schon. Teil der Gruppe waren sie alle.

Monatelang als Tannenzapfen verkleidet

Mein Sohn haben wir in eine Freie Schule eingeschult. Dass diese Schule auch inklusiv war, hatten wir gar nicht im Blick. Ich bekam dies ganz am Rande mit, als mir auffiel, dass ein Kind monatelang als Tannenzapfen verkleidet zur Schule kam – obwohl Fasching schon lange vorbei war. Als ich meinen Sohn fragte, warum das so sei, reagierte er regelrecht verständnislos: “Na, weil Jan* sich so einfach besser fühlt, warum wohl sonst…” Beim Elternabend erfuhr ich, dass Jan Asperger-Autist ist. Für meinen Sohn und die Klasse war das allerdings kein Thema und Tannenzapfenverkleidungsvorlieben wurden ähnlich selbstverständlich akzeptiert, wie Manga-Sammelkarten, Fußballspielen und Skateboarden.

Sowohl in der Kita meiner Tochter als auch in der Schule meines Sohnes gab es unter den Kindern ein sehr wohlwollendes Miteinander. Ich hatte nie den Eindruck, dass die Kinder überhaupt hinterfragten oder speziell wahrnahmen, dass es einige Kinder mit Behinderungen gab. Da waren und sind wir Eltern – und ich nehme mich nicht aus – schon eher Störfaktoren und unnötige Hinterfrager*innen.


Nach dem 4. Grundschuljahr wollte mein Sohn unbedingt auf ein grundständiges Gymnasium mit altsprachlicher Prägung wechseln. Die Schule war zwar für ihre extreme Leistungsorientierung bekannt, Inklusion war regelrecht unerwünscht und es gab keine Lernenden mit Förderbedarf oder sichtbaren Behinderungen – aber der Wunsch meines Sohnes war unumstößlich.

Die Freude über die Schule und die neuen Herausforderungen hielt bei ihm allerdings nicht lange an: Nach kurzer Zeit fand er sich in einem ausgeprägten Konkurrenzkampf unter den Schüler*innen wieder, der von vielen Eltern geschürt und von einigen der Lehrer*innen unterstützt wurde.

Teamfähigkeit? Fehlanzeige!

Andere Lehrer*innen versuchten, dagegen zu wirken. Ein älterer Lehrer, der noch nicht lange an der Schule war, problematisierte während eines Elternabends, dass er dieses Ausmaß an Einzelkämpfer*innentum und Mißgunst gegenüber Mitschüler*innen noch an keiner Schule in diesem Ausmaß erlebt habe. Er war bestürzt, wie wenig die Schüler*innen in der Lage waren, produktiv und einvernehmlich im Team zu arbeiten – selbst als er bei einer Gruppenarbeit besonders betont hatte, wie wichtig die Zusammenarbeit sei. Er gab ihnen explizit die Aufgabe herauszufinden, welche Stärken die einzelnen Schüler*innen der Gruppe hätten, um die Arbeiten dementsprechend untereinander verteilen zu können.

Die Ergebnisse und Präsentationen waren alle tadellos und leistungsstark – aber als es ans Benoten ging, gab es unter einigen der Schüler*innen großen Unmut, als sie bemerkten, dass die Gruppenarbeit mit einer Gemeinschaftszensur beurteilt werden sollte. Es entstanden wütende Diskussionen darüber, dass nicht alle Gruppenmitglieder gleich viel gearbeitet hätten: Einige hätten sich noch zusätzlich mit ihren Eltern hingesetzt und das Referat bearbeitet, während andere nur bei den Arbeitstreffen ihren Teil beigetragen hätten.

Alles lief auf ein Argument zusammen:

Warum soll mein*e Mitschüler*in ebenfalls eine gute Note bekommen, wenn ich doch viel mehr an dem Projekt gearbeitet habe (auch zusammen mit meinen Eltern)! 

Als der Lehrer den Vorfall mit den Eltern kritisch diskutieren wollte, wurde jedoch schnell klar, dass ein Großteil der Eltern den Argumenten ihrer Kinder zustimmten. Leistung und persönliche Leistungsnachweise waren ihnen wichtiger als das Erlernen von Teamarbeit. Dieser Vorfall war exemplarisch für viele weitere.

In der Klassenstufe meines Sohne kam es innerhalb der zwei Jahre, die mein Sohn an der Schule verbrachte, zunehmend zu handgreiflichen Auseinandersetzungen bis hin zum Mobbing einzelner Schüler*innen. Auch wenn mein Sohn nicht selbst betroffen war, empfand er diese Situation als sehr belastend. Beim nächsten Elternsprechtag griff ich das Thema auf – und bekam vom Klassenlehrer die ernüchternde Antwort, dass die Lehrerschaft sich auf die Leistungssteigerung der Schüler*innen konzentrieren würden und mit “sozialen Geschichten” zeitlich überfordert wären. Es gäbe ein Streitschlichtungs-Team an der Schule, das sich um solche Vorfälle kümmern könnte.

Der immer stärker werdende Leistungsdruck, der auch aus Freund*innen zunehmend Konkurrent*innen machte, und die aggressive Stimmung belasteten meinen Sohn so sehr, dass er schließlich nicht mehr gerne zur Schule ging. Er klagte immer häufiger über Bauchschmerzen und musste krank nach Hause entlassen werden. Eine organische Ursache hierfür wurde nie gefunden.

"Du musst einfach mehr lernen!"

Zudem wurden seine Zensuren immer schlechter, obwohl er Zuhause oft die Nachmittage und Wochenenden “durchpaukte”. Er hatte beständig Versagensgefühle und traute sich selbst immer weniger zu – und tatsächlich gab er bei Klassenarbeiten oft kaum beschriebene Arbeitsblätter ab.

Diverse Lehrer*innengespräche bestätigten, dass mein Sohn aus ihrer Sicht leistungsfähig sei. Doch niemand kam auf die Idee, dass seine Schwierigkeiten mit der schlechten Stimmung unter den Schüler*innen zusammen hängen könnte. Als der Klassenlehrer meinen Sohn in einem weiteren Elterngespräch schließlich aufforderte, “Du musst einfach mehr lernen!”, wurde mir endgültig klar, dass diese Schule für uns keine Zukunft haben würde.

Für mich stand fest: Es kommt für meinen Sohn nur eine inklusive Schule in Frage, an der soziales Lernen und Miteinander Teil des Schulkonzeptes sind. Und so wechselte er an eine  Inklusions-Oberschule mit leistungs- und zieldifferenziertem Unterricht. In seiner Klasse befinden sich drei Kinder mit Förderbedarf sowie Schüler*innen unterschiedlichen Leistungsniveaus.

Was jetzt kommt, mag ein bisschen zu sehr nach Inklusions-Happy-End klingen – aber es entspricht ganz einfach den Tatsachen: Die Leistungsbereitschaft und das -niveau meines Sohnes sind wieder deutlich gestiegen, vor allem ist seine Freude am Lernen wieder da.

Warum mein Sohn ohne Förderbedarf von Inklusion profitiert

Ich erlebe, wie sehr mein nichtbehinderter Sohn ohne Förderbedarf vom inklusiven Konzept dieser Schule profitiert. Statt Leistungskampf gegeneinander, herrscht hier Teamfähigkeit und Hilfsbereitschaft. Es spielt keine Rolle, ob ein*e Mitschüler*in Förderbedarf hat oder ob Mitschüler*innen in Kursen mit geringerem oder höherem Leistungsniveau sind. Inklusion, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Teamgeist sind die Gründe, weshalb mein Sohn wieder gerne zur Schule geht.

Auch meine Tochter besucht mittlerweile seit einem Jahr diese Inklusions-Oberschule. In ihrer Klasse sind ebenfalls Kinder mit und ohne Behinderungen. Als ein Mitschüler sich über das Aussehen eines Kindes in der Klasse lustig machte, reagierte die Klasse sofort und machte den Vorfall zum Thema in der nächsten Tutoriumsstunde.

Meine – zugegebenermaßen unangebrachte – Frage, was für eine Behinderung das Mädchen denn habe, beantwortete meine Tochter ähnlich verständnislos wie Jahre zuvor ihr Bruder: “Man Mama, was für eine bescheuerte Frage! Das weiß ich nicht und interessiert mich auch nicht!”

Und wie Recht sie damit hat!

*Namen von der Redaktion geändert.

Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film 
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.

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Zum Film DIE KINDER DER UTOPIE

Ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge sitzen auf einer Treppenstufe, der Junge hilft dem Mädchen beim Ausfüllen eines Arbeitszettels.

Schlagworte

  • Wozu Inklusion?