Alle Eltern kennen es – das gelbe U-Heft. Das Untersuchungsheft, das in Deutschland jedes Neugeborene bekommt. Man kann bunte Umschläge darum machen oder es in eine Plastikhülle stecken. Es bleibt: das gelbe U-Heft, in dem bis zum Alter von 6 Jahren 10 Untersuchungen (U1 bis U9 – die U7a ist dazwischen geschoben worden) aufgezeichnet werden, die jedes Kind beim Kinderarzt zu durchlaufen hat. Das U-Heft ist – oder besser: die zugehörigen Untersuchungen sind – eine große Errungenschaft. Sie bedeuten, dass Eltern und Ärzte gerade bei kleinen Kindern schnell merken, wenn es Auffälligkeiten gibt. Und dann kann oft schnell und hilfreich gehandelt werden.
Gleichzeitig können diese Untersuchungen Eltern unter großen Druck setzen. Bei der U7a gibt es eine Liste von Wörtern, und man soll ankreuzen, welche das Kind schon spricht. Zwar steht dort ein Satz, der beruhigend wirken soll: „Der Wortschatz von dreijährigen Kindern ist sehr unterschiedlich“ – aber das mulmige Gefühl, wenn das eigene Kind viele von den Wörtern noch nicht spricht, das bleibt.
Kinder sind kein Durchschnitt
Die Us gucken nämlich meist auf den Durchschnitt. Kinder sind aber kein Durchschnitt. Der vielen Eltern aus seinem Buch „Kinderjahre“ gut bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo hat mit seinem Team in mehreren Langzeitstudien gezeigt, wie groß die Spanne bei „gesunden“ Kindern für alles Mögliche ist: Sprechenlernen, Laufenlernen, Durchschlafen, etc. So liegt der Wortschatz von Kindern mit drei Jahren im Mittel bei ca. 1000 Wörtern. Und alles zwischen etwa 50 Wörtern und 2000 Worten liegt völlig im Rahmen – und dieser Rahmen ist eben viel, viel größer, als die Us häufig suggerieren.
Warum also Inklusion? Und was haben die U-Hefte mit Inklusion zu tun? Inklusion – das ist die Erkenntnis, dass unter „normal“ eben alles fällt, was es gibt. Kinder, die mit neun Monaten ganze Sätze sprechen. Kinder, die mit drei Jahren sagen: „Meiner Mama!“ Kinder, die gar nicht sprechen, egal, ob sie neun Monate alt sind, drei Jahre oder dreizehn. Kinder, die Gebärdensprache sprechen. Kinder im Rollstuhl, Kinder, die am liebsten rückwärts gehen, Kinder, die auf Bäume klettern. Kinder, die mit den Augen lesen und solche, die es mit den Fingern tun. Kinder mit lockigen Haaren und glatten. Mit braunen Augen, mit grünen und blauen und ohne Augen. Gibt es alles. Gehört alles dazu. Und die Liste ist endlos.
Unterschiede gehen nicht weg, weil man im selben Klassenzimmer sitzt
Inklusion zeigt: so sind wir. So ist die Gesellschaft. Schule ist einer der wenigen Orte, in denen sich, dank Schulpflicht, alle treffen können. Und an dem alle lernen: wir können jede*r von allen etwas lernen. Jedes Kind hat etwas beizutragen zu unserer Gesellschaft. Und wir können lernen, unsere Unterschiedlichkeiten, unsere verschiedenen Ansprüche, Bedürfnisse, Vorlieben auszuhalten. Wir müssen das nicht gut finden. Unterschiede gehen nicht weg, weil man im selben Klassenzimmer sitzt. Inklusion ist deshalb nicht bequem. Aber sie ist eine Voraussetzung für echte Demokratie, in der es darum geht, miteinander immer wieder ins Gespräch zu kommen. Über die Vergleiche hinaus, die die U-Hefte geradezu einfordern, unter Ansehen der Unterschiede, auch, wenn es weh tut.
Darum Inklusion: um mit Unterschiedlichkeit umzugehen und zu lernen, dass es alle braucht, damit Gesellschaft gelingen kann. Und das uns mehr eint, als uns trennt. Selbst, wenn den Anfang nur das U-Heft macht, das wir alle haben.
Dieser Text wurde im Rahmen der Kampagne zum Film
DIE KINDER DER UTOPIE (Hubertus Siegert) erstellt.