NIPT: Broschüre klammert zentrale Fragen aus

Stellungnahme des mittendrin e.V. zum Entwurf der Broschüre "Bluttest auf Trisomien – ja oder nein?" des

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG):

 

Stellungnahme zu allgemeinen Aspekten
Aus unserer Sicht sind bezüglich der nicht-invasiven pränatalen Tests (NIPT) auf genetische Abweichungen, insbesondere dem auf Trisomien, noch ausführliche gesellschaftliche Diskussionen notwendig. Es fehlt bislang eine breite gesellschaftliche und politische Debatte zu der Frage, ob es sinnvoll oder sogar schädlich ist, durch das (kostenlose) zur Verfügung stellen von nicht-invasiven genetischen Tests den Druck auf Frauen zu erhöhen, nicht nur gesunde, sondern vielmehr der Norm entsprechende Kinder zu gebären.

Es ist zu hinterfragen, ob die faktische Selbstverständlichkeit, dass Ungeborene mit einer Trisomie vorgeburtlich gezielt aufgespürt werden und dann zur Abtreibung freigegeben sind, so hingenommen werden sollte. Auch ist zu überprüfen, wie sich diese seit Jahrzehnten etablierte Praxis, die durch die Kassenzulassung des Bluttests auf Trisomien nun eine neue Dynamik erhält, zur gültigen Rechtslage nach § 218a Abs. 2 StGB verhält. Bereits 2009 mahnten die Bundesärztekammer und die Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. in einer gemeinsamen Stellungnahme an, „das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber die Pflicht zur Beobachtung und Nachbesserung aufgegeben, falls sich erweise, dass die geltende Regelung im Schwangerschaftsgesetz den Lebensschutz für das Kind nicht hinreichend gewährleiste.“ (1) Diese Beobachtung und Nachbesserung ist bis zum heutigen Tage nicht erfolgt.

Auch wenn in Deutschland die Information, ob ein Schwangerschaftsabbruch nach der pränatalen Diagnose einer Fehlbildung oder genetischen Abweichung des Fötus erfolgt, statistisch nicht erhoben wird, gehen Exper*innen davon aus, dass neun von zehn Schwangerschaften nach der pränatalen Diagnose einer Trisomie 21 abgebrochen werden (2).

Über die faktische Verfügbarkeit des Tests hinaus vermittelt nun auch die Broschüre unvermeidbar, dass die Abtreibung von Föten mit Trisomie ein normaler gesellschaftlicher Umgang mit Behinderung sei. Sie vermittelt damit auch, dass eine Trisomie ein zu vermeidender „Unfall“ sei, anstatt anzuerkennen, dass es sich um eine Variante innerhalb des unglaublich vielfältigen Spektrums von menschlichem Sein handelt.

In diesem Zusammenhang sehen wir auch den dringenden Bedarf, die Qualität der ärztlichen Beratung zum Einsatz der pränatalen Tests und zum Umgang mit der Diagnose einer Trisomie sowie die Einhaltung des Gendiagnostikgesetzes, das diese Beratung klaren Regeln unterwirft, in breit angelegten Studien zu überprüfen. Ebenso muss überprüft werden, inwieweit das Überreichen der vorliegenden Broschüre durch die Gynäkolog*innen bei den schwangeren Frauen Ängste, Unsicherheiten und das Gefühl einem Handlungsdruck ausgesetzt zu sein, erst aufkommen lässt oder verstärkt. Und inwieweit dann erst durch die Broschüre induziert eine Entscheidung zur Durchführung des NIPT fällt, da dieser als probates Mittel zur Bekämpfung der Ängste wahrgenommen wird.

Bei den Autorinnen dieser Stellungnahme handelt es sich um Mütter von Kindern mit Trisomie 21, die aus eigenem Erleben und aus der Beratungsarbeit im Rahmen der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstelle des mittendrin e.V. deutliche Evidenz dafür sehen, dass gegen die im Gendiagnostikgesetz vorgeschriebene Ergebnisoffenheit in der Beratung zur Anwendung des Tests und nach einer positiven Trisomie-21-Diagnose regelmäßig verstoßen wird. So wurden den Autorinnen in Beratungsgesprächen von betroffenen Frauen häufig Aussagen der behandelnden Gynäkolog*innen, wie folgende, weitergegeben: „Sie können es auch jetzt noch wegmachen lassen und dann ein gesundes Kind bekommen. Ob Sie jetzt in der 12. SSW oder der 34. SSW abtreiben, ist egal, wenn das Kind behindert ist. Sie sollten sich in den nächsten drei Tagen entscheiden.“ Die betroffenen Frauen berichteten von ihren Gefühlen, sich durch diese Aussagen zu einem schnellen Abbruch der Schwangerschaft gedrängt zu fühlen und keinen Raum für eine selbstbestimmte Entscheidung zu haben.

Auch erzeugt die zunehmende Normalisierung und Ausweitung der pränatalen Diagnostik – insbesondere der Trisomie 21 – einen Rechtfertigungsdruck auf Eltern, die ein Kind mit Trisomie 21 geboren haben. Alle uns bekannten Eltern sind regelmäßig mit Äußerungen wie den folgenden konfrontiert:

  • Wieso haben Sie das nicht testen lassen? Sie sind doch schon 35! (Geäußert von einem Gynäkologen im Kreißsaal, unmittelbar nach der Geburt eines Mädchens mit Trisomie 21.)
  • „Das“ kann man heutzutage doch vermeiden…
  • Ich habe die Schwangerschaft solange nicht publik gemacht, bis ich sicher war, dass das Kind keine Trisomie 21 hat, nachdem ich das mit Deinem Kind mitbekommen habe… (völlig selbstverständlich und ohne Scham vorgetragen).


Die genannten Aspekte machen deutlich, dass zentrale juristische, ethische und psychosoziale Fragestellungen zum Einsatz und den Folgen des NIPT nicht hinreichend geklärt sind.

Aus unserer Sicht kann die Konsequenz daher nur sein, dass das IQWiG diese offenen Fragestellungen an den G-BA und dieser an den Gesetzgeber mit Bitte um Klärung zurückgibt – und solange von einer Veröffentlichung der Broschüre absieht.

Stellungnahme zu spezifischen Aspekten
Insgesamt erkennen wir an, dass das IQWiG sich in der vorliegenden Broschüre „Bluttest auf Trisomien – ja oder nein?“ bemüht, negative Urteile über Menschen mit Trisomie zu vermeiden und den Gedanken der selbstverständlichen Abtreibung nach einer pränatalen Diagnosestellung zu relativieren. Dies ist aus unserer Sicht aber nicht gelungen.

Zu Seite 3 der Broschüre:
An erster Stelle fehlt die notwendige Auseinandersetzung damit, dass der Bluttest keinen medizinischen Nutzen hat. Und damit die klare Abgrenzung zu Vorsorgeuntersuchungen, die dazu dienen, die Gesundheit von werdender Mutter und Ungeborenem zu überwachen und gegebenenfalls auftretende Probleme zu behandeln.
Der NIPT dient dagegen der aktiven Suche nach genetischen Abweichungen beim Ungeborenen. Eine pränatale Diagnosestellung eröffnet keine therapeutische Handlungsoption.
Die Formulierung „Der NIPT kann manchmal sinnvoll sein, oft ist er aber unnötig“ ist in diesem Zusammenhang von geringer Aussagekraft und äußerst irreführend.
Zudem fragen wir uns, zu welchem Zwecke eine „Nötigkeit“ des Tests bestehen soll. „Nötig“ kann der Test ja nur sein, wenn eine unbedingte Notwendigkeit verspürt wird, um bestimmte genetische Abweichungen schon vor der Geburt zu wissen, und zwar möglichst früh. Im Gegensatz zu Föten mit Trisomien schließt der Gesetzgeber aber z.B. eine Diagnostik bezüglich des Geschlechts zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich aus – eben, um eine Selektion von Föten nach ihrem Geschlecht zu verhindern. Es stellt sich die Frage, ob dieser unterschiedliche Schutz von Föten bezogen auf ihr Geschlecht und bezogen auf eine Trisomie, mit Artikel 1 GG vereinbar ist.

Zu Seite 4-5 der Broschüre:
Unter dem Punkt „Vorgeburtliche Untersuchungen – ja oder nein?“ müssen unseres Erachtens die komplexen psychosozialen, ethischen und juristischen Fragestellungen behandelt werden, die der Einsatz eines NIPT aufwirft – denn sie bilden den Rahmen, in dem man eine Entscheidung für oder gegen den Test treffen muss.
Auch an dieser Stelle fehlt der Hinweis, dass ein NIPT keinen medizinischen Nutzen hat. Die Formulierung „Alle vorgeburtlichen Untersuchungen sind freiwillig – das heißt, Sie können eine Untersuchung oder einen Test jederzeit ohne Begründung ablehnen.“ ist insofern problematisch, als das Adjektiv „freiwillig“ immer positiv konnotiert ist, das Verb „ablehnen“ dagegen impliziert, jemand stelle sich gegen die Norm, was gemeinhin negativ konnotiert ist.

Auf Seite 5 sind besonders diese Formulierungen hoch problematisch:

  • „ob Ihre Situation so belastend ist, dass Sie weitere Untersuchungen in Anspruch nehmen möchten“
  • „was Sie bei einem auffälligen Ergebnis tun würden“.

Das Aufgreifen einer „belastenden Situation“ nimmt hier Bezug auf die Tatsache, dass viele Schwangere den NIPT als Chance sehen, ein Gefühl der Sicherheit und Kontrolle über die Schwangerschaft zu erhalten (wie in Kapitel 4.1.3. des Vorberichts beschrieben), eine Art Garantie, dass ihr Kind gesund zur Welt kommen wird.

An dieser Stelle müsste eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Erwartungshorizont und dem tatsächlichen Nutzen des NIPT stehen: Der Test kann lediglich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen oder bestätigen, dass eine der drei Trisomien 13, 18 oder 21 vorliegt. Diese bilden aber nur einen kleinen Ausschnitt möglicher Behinderungen ab. Hier müsste also deutlich formuliert werden, dass ein negatives Ergebnis des NIPT nicht garantiert, dass das Kind ohne Behinderung zur Welt kommen wird. Hier müsste problematisiert werden, ob das Durchführen immer weiterer Tests ein probates Mittel zum Umgang mit Ängsten in der Schwangerschaft ist.

Die Formulierung „was Sie bei einem auffälligen Ergebnis tun würden“ verweist hier wolkig auf die Möglichkeit, die Schwangerschaft nach einem positiven Testergebnis abzubrechen – denn eine therapeutische Handlungsoption steht ja nicht zur Verfügung. Hier müssten zwingend zwei Aspekte klar benannt werden:

Dass der Test bereits sehr früh in der Schwangerschaft angewendet werden kann, bedeutet nicht, dass innerhalb der 12-Wochen-Frist ein Schwangerschaftsabbruch auf Grundlage einer gesicherten Diagnose möglich ist. Jedes positive Ergebnis muss laut der aktuellen Leitlinien durch eine Amniozentese verifiziert werden, was aber erst ab der 15. SSW möglich ist, das Ergebnis liegt dann etwa in der 17. SSW vor. Ein Schwangerschaftsabbruch mit gesicherter Trisomie-Diagnose ist also in jedem Fall eine Spätabtreibung. Dass diese Tatsache in der Broschüre nicht deutlich wird, bestätigen auch die Aussagen der Testnutzer*innen, wie unter B1, 5.3.7.1 im Vorbericht beschrieben.

Die schwammige Formulierung verdeckt auch, dass es zu Schwangerschaftsabbrüchen nach der 12. SSW eine eindeutige Rechtslage gibt. § 218 Absatz 2 sagt im Wortlaut:
„Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“ (Hervorhebung von den Autorinnen)

Im Versuch eine „neutrale“ Broschüre zu erstellen, hat das IQWiG diese Rechtslage ausgeblendet und legitimiert damit die gesellschaftliche Praxis, die Rechtslage weit über das juristisch mögliche hinaus bis zum Zerreißen zu dehnen. Es wird mit diesen Formulierungen der Eindruck erweckt, dass es im Belieben und der persönlichen Abwägung der Schwangeren läge, bei einer positiven Diagnose das Kind zu bekommen oder die Schwangerschaft abzubrechen. Dies ist falsch. Diese Tatsache kann man unterschiedlich bewerten.
Das Rechtsempfinden weiter Teile der Gesellschaft und der Ärzte steht hier aber ganz offensichtlich im Konflikt mit dem Gesetz.

Zu Seite 7 der Broschüre:
Im Kapitel „Was bedeutet ein Kind mit einer Trisomie für das Familienleben?“ fehlen die entscheidenden Perspektiven: die der Eltern und Geschwister von Kindern mit Trisomie, sowie insbesondere die der Menschen mit Trisomie 21 selbst. Denn diese sind sehr wohl in der Lage Auskunft über ihre Lebenszufriedenheit zu geben.

Den Menschen mit Trisomie 21 und ihren Familien in einer solchen Broschüre eine Stimme zu geben, wäre in besonderem Maße wichtig, um ein lebensnahes Bild aufzuzeigen. Und um klarzumachen, dass es sich bei ihnen um denkende und fühlende Menschen handelt – und nicht um defektes Zellmaterial.

Betroffene Familien finden sich nicht in Formulierungen wie „Viele Eltern gewöhnen sich an die Anforderungen“ wieder. An dieser Stelle wäre vielmehr der Hinweis auf breit angelegte Untersuchungen angebracht, die ergeben haben, dass 99 Prozent der betroffenen Eltern ihre Kinder mit Trisomie 21 von Herzen lieben (3), dass 96 Prozent der Geschwister Zuneigung für ihr Geschwister mit Trisomie 21 empfinden (4) und dass 97 Prozent der Menschen mit Trisomie 21 selbst sich mögen, so wie sie sind (5).

Zu Seite 11 der Broschüre:
Das Kapitel „Wann wird der NIPT von den Krankenkassen übernommen?“ wirft die Frage auf, wie sich denn ein Hinweis auf eine Trisomie bereits in der 9. Bis 11. SSW ergeben haben sollte – ab diesem Zeitpunkt kann der NIPT durchgeführt werden. Erst das Ersttrimester-Screening kann diese Hinweise liefern, es findet zwischen der 10. und 14. SSW statt und ist eine kostenpflichtige Leistung.
Es stellt sich hier heraus, dass die Regeln der Kostenübernahme durch die Krankenkasse widersprüchlich und nicht klar vermittelbar sind. Wir empfehlen dem IQWiG diesen Punkt an den G-BA zurückzugeben – oder alternativ die Widersprüchlichkeit klar zu benennen.
Auch die Aussagen der Testnutzer*innen im Vorbericht zeigen, dass dieser Punkt in der Broschüre nicht klar wird.

Zu Seite 16 der Broschüre:
Die unter dem Kapitel „Wie entscheiden?“ behandelten Fragestellungen gehören aus unserer Sicht ganz an den Anfang der Broschüre. Die grundsätzlichen Kritikpunkte sind die gleichen, die wir in unseren Ausführungen zu den Seiten 4-5 der Broschüre genannt haben.

Zu Seite 17 der Broschüre:
Die im Kapitel „Weitere Informationen“ aufgeführten Webangebote sind aus unserer Sicht unzureichend. Insbesondere die Seiten www.familienplanung.de und www.kindergesundheit-info.de bieten in der Unternavigation der Seite lediglich sehr allgemeine und oberflächliche Informationen, die in keiner Weise auf die konkrete Situation und die Fragen von Paaren, die vor der Entscheidung „Pränataldiagnostik – ja oder nein“ stehen, zugeschnitten sind.

Es fehlen Adressen von psychosozialen Schwangerschaftsberatungsstellen.

Literaturverzeichnis

1. Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag: Schwangerschaftsabbrüche aufgrund einer Behinderung oder vorgeburtlichen Schädigung des Kindes in Deutschland seit 1996. Aktenzeichen WD 9 - 3000 - 024/17, 2017, S. 8

2. Ärztezeitung: Trisomie-21-Diagnose führt meist zur Abtreibung, 21.03.2017

3. Skotko, B., Levine, S., Goldstein, R.: Having a Son or Daughter with Down Syndrome: Perspectives from Mothers and Fathers. American Journal of Medical Genetics, 2011

4. Skotko, B., Levine, S., Goldstein, R.: Having a Brother or Sister with Down Syndrome: Perspectives from Siblings. American Journal of Medical Genetics, 2011

5. Skotko, B., Levine, S., Goldstein, R.: Self-perceptions from People with Down Syndrome. American Journal of Medical Genetics, 2011

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