Halbzeit: Die Mär vom "Elternwahlrecht"

Am Mittwoch den 19.8.2020 diskutiert der Schulausschuss des Landtags NRW die schulpolitische Halbzeitbilanz der Landesregierung.

Der Elternverein mittendrin e.V., der zu der Sitzung als Sachverständiger geladen ist, sieht in seiner Stellungnahme erhebliche Defizite beim Aufbau der schulischen Inklusion. Schulministerin Yvonne Gebauer sei es in den drei Jahren ihrer Amtszeit nicht gelungen, zu glaubhafter und erfolgreicher Politik für Inklusion zu finden.

Die „Neuausrichtung“ der Inklusion kranke an gravierenden Umsetzungsproblemen. Die Stimmung an den Schulen zur Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung habe sich deutlich verschlechtert. Statt dessen verstärke sich der Trend, immer mehr Schüler:innen, die Schwierigkeiten haben, einen sonderpädagogischen Förderbedarf zu attestieren.Vor allem Schüler:innen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen fänden dagegen vielerorts im Land keine inklusive Schule in zumutbarer Nähe.

Immer noch klebe an ihrer Amtsführung der polarisierende Landtagswahlkampf mit ihren Angriffen auf eine vorgeblich zu schnelle Inklusion und ihrer Forderung nach dem Erhalt sämtlicher Förderschulen, um ein „Elternwahlrecht“ zu sichern.

Von einem „Elternwahlrecht“, so der Elternverein, könne angesichts des unzureichenden Angebots an inklusiver Bildung keine Rede sein. Jeglichen Planungen und Maßnahmen für einen weiteren Aufbau der inklusiven Bildung verweigere sich die Ministerin aber mit Verweis auf dieses vorgebliche „Elternwahlrecht“. Inzwischen, so der mittendrin e.V., fühlten sich zunehmend Eltern von der Rede über ein „Elternwahlrecht“ instrumentalisiert, die entgegen ihren Wünschen letztlich das Kind an einer Förderschule angemeldet haben, weil ein gutes inklusives Schulangebot fehlt.

Lesen Sie die Stellungnahme des mittendrin e.V. zur Anhörung im Schulausschuss:

Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen

Ausschuss für Schule und Bildung

Anhörung „Schulpolitische Halbzeitbilanz“ zur Drucksache 17/8425 am 19. August 2020

Stellungnahme

Der mittendrin e.V. ist ein Elternverein, der sich für inklusive Bildung einsetzt. Er ist im Jahre 2006 überwiegend von Eltern von Kindern mit Behinderung gegründet worden. Seit nunmehr 14 Jahren betreiben wir eine Elternberatungsstelle, die jährlich im Schnitt von 250 Familien nicht nur aus dem Kölner Raum, sondern aus ganz Nordrhein-Westfalen genutzt wird. Wir informieren und beraten Eltern in allen Fragen rund um die inklusive Bildung. Wir begleiten Eltern bei Bedarf zu Gesprächen in Schulen und Schulämtern und helfen, Lösungen für Schulprobleme zu finden. Der mittendrin e.V. stellt Politik und Verwaltung seine langjährige Expertise für den Aufbau der inklusiven Bildung zur Verfügung. Der Verein entsendet Vertreter:innen in den Inklusionsbeirat des Landes NRW, in die Fachbeiräte Arbeit, Inklusive schulische Bildung und Partizipation sowie in den Expertenbeirat zur Umsetzung des Inklusionsplans der Stadt Köln und hat auf Seiten der Selbsthilfe an den Landesrahmenvereinbarungen zur Umsetzung des BTHG teilgenommen.

Inklusive Schulpolitik seit Sommer 2017

Zum Zeitpunkt der Amtsübernahme der aktuellen Landesregierung im Jahr 2017 befanden wir uns im dritten Schuljahr erster schulgesetzlicher Änderungen zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich, dass bei der Umsetzung der inklusiven Bildung in den Schulen Schwierigkeiten auftraten, die eine deutliche Nachsteuerung der Regeln und Bedingungen erforderten. Der mittendrin e.V. hatte damals in vielen Gesprächen neben einem höheren Personaleinsatz vor allem eine erheblich stärkere personelle und fachlich-qualitative Steuerung empfohlen. Außerdem zeigte sich, dass es sowohl an den Schulen als auch in der Öffentlichkeit einen deutlichen Bedarf an Bewusstseinsbildung für Inklusion gab.

Aus unserer Sicht hatte Politik den Aufwand unterschätzt, über das politisch beschlossene Ziel der inklusiven Bildung zu informieren und dessen Hintergründe sowie das staatliche Vorgehen zu erklären. Der menschenrechtliche Gehalt und die gesellschaftlich-demokratische Notwendigkeit inklusiver Bildung ist dem größten Teil der Öffentlichkeit und den meisten Schulgemeinden bis heute nicht bekannt. Auch die jahrzehntelangen praktischen Erfahrungen mit gelingender Inklusion aus den bestehenden „Integrationsschulen“ kennen die meisten Schulleitungen, Lehrer:innen und Sonderpädagog:innen bis heute nicht. Sie können diese Erfahrungen deshalb auch nicht nutzen, mit entsprechenden negativen Folgen für die Unterrichtsqualität.

Dieser Mangel an Information und Bewusstseinsbildung ist aus unserer Sicht einer der wesentlichen Gründe für die Probleme unserer Schulen bei der Umsetzung der inklusiven Bildung.

Nach einem leider ausgerechnet beim Thema der inklusiven Bildung sehr polarisierenden Wahlkampf trat die aktuelle Landesregierung ihre Arbeit im Feld der Inklusion vor allem mit der Ankündigung an, sämtliche Förderschulen zu erhalten. Dies ist in den Medien ebenso wie in der breiten Öffentlichkeit und auch unter den am Schulleben Beteiligten so verstanden worden, dass die neue Regierung den Aufbau der inklusiven Bildung stoppen wolle. Dass Schulministerin Yvonne Gebauer ebenfalls angekündigt hatte, die inklusive Bildung fördern und qualitativ verbessern zu wollen, wurde daneben nicht wahrgenommen oder nicht ernst genommen. Tatsächlich ist es der Ministerin bis heute nicht gelungen, diesen Eindruck zurechtzurücken. Ihrer Amtsführung haftet in der interessierten Bevölkerung durchweg die unterstellte Haltung an, nach der Kinder und Jugendliche mit Behinderung letztlich in getrennten Förderschulen besser unterrichtet werden könnten.

Gestützt wurde dieses Bild durch die inhaltliche Ausrichtung der Amtsführung im ersten Jahr, in dem die Ministerin häufig zum Erhalt aller Förderschulen kommunizierte und die Mindestgrößenverordnung für diese Schulen außer Kraft setzte, aber zunächst keine Initiativen zur inklusiven Bildung ergriff. Erst nach einem Jahr präsentierte die Ministerin erste Vorschläge für Veränderungen im Bereich der Inklusion an weiterführenden Schulen (Eckpunkte für die Neuausrichtung der Inklusion). Diese waren ohne Beratung durch den Fachbeirat Inklusive schulische Bildung, dem Expert:innengremium des Inklusionsbeirats des Landes NRW, entstanden. Das Ministerium hatte den Fachbeirat im ersten Jahr nicht ein einziges Mal einberufen.

Auch im zweiten Amtsjahr hat die Ministerin die Expertise des Fachbeirats Inklusive schulische Bildung nicht in der Planungs- und Konzeptionsphase von Maßnahmen zur Inklusion genutzt. Dem Fachbeirat wurden lediglich bereits beschlossene Maßnahmen vorgelegt. Auch über Inhalte des Masterplans Grundschule ist im Fachbeirat nicht diskutiert worden. Über die Sitzungen des Gremiums einschließlich der Diskussion fachlicher Vorschläge und Kritik wurde kein Protokoll angefertigt.

„Neuausrichtung“

Die bisher einzige Reformmaßnahme im Bereich der schulischen Inklusion ist der Erlass zur „Neuausrichtung“, der für die weiterführenden Schulen zum Schuljahr 2019/2020 wirksam wurde. Angesichts des Mangels an Sonderpädagog:innen und angesichts der Schwierigkeiten bei der inklusiven Entwicklung der Schulen folgte die „Neuausrichtung“ der Inklusion dem Gedanken, die Zahl der weiterführenden Schulen des Gemeinsamen Lernens zu reduzieren, die Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf dort zu bündeln, um dort mit einer besseren Personalausstattung eine bessere inklusive Unterrichtsqualität bieten zu können. In diesem Zusammenhang wurden Personalstellen in den Landeshaushalt eingestellt, um jeder inklusiven Klasse eine halbe zusätzliche Stelle zur Verfügung zu stellen, die mit Lehrer:innen, Sonderpädagog:innen oder anderem pädagogischen Personal besetzt werden kann.

Die Genehmigung zur Unterrichtung von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sollten dabei nur Schulen bekommen, die vier Qualitätskriterien erfüllen: Die Schule muss ein Konzept für Inklusion haben oder erarbeiten, sie muss Sonderpädagog:innen als Teil des Kollegiums vorhalten, sie muss ihre Lehrkräfte „systematisch“ fortbilden und sie muss für die Beschulung von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgestattet sein.

Aus nicht-fachlicher Sicht hatte die Landesregierung mit der „Neuausrichtung“ ein solides Konzept für Verbesserungen in der schulischen Inklusion in weiterführenden Schulen vorgelegt.

Bei näherer Betrachtung und vor allem in der Umsetzung hält das Paket diesem Eindruck jedoch nicht stand. Vor allem aus Sicht der Betroffenen – der Schüler:innen mit Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf und ihrer Familien – hat die „Neuausrichtung“ kaum Verbesserungen, sondern im Gegenteil Verschlechterungen erzeugt.

- Die bessere Personalausstattung der inklusiven Klassen konnte nicht wie versprochen realisiert werden. Im Oktober 2019 waren nach Auskunft des Schulministeriums die meisten Stellen für die neuen 5. Klassen noch gar nicht besetzt. Über die Besetzung der Stellen für den aktuellen zweiten 5. Jahrgang haben wir keine Information. Zusätzlich zeigte sich, dass es kaum gelungen war, lehrendes Personal (Lehrer:innen bzw. Sonderpädagog:innen) als Verstärkung der inklusiven Klassen einzustellen, obwohl dieses für die dringend benötigte Verbesserung der inklusiven Unterrichtsqualität gebraucht wird. Der Einsatz von Sozialpädagog:innen oder Erzieher:innen in inklusiven Klassen droht jedoch gerade angesichts der zumeist noch wenig fortgeschrittenen inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung die Vorstellung zu verstärken, dass Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Schule überwiegend betreut und gefördert werden müssen, anstatt den pädagogischen Fokus auf Bildung und Unterricht zu richten.

Letztlich macht die Öffnung für nicht lehrendes Personal aus diesem Stellenpaket ein Notprogramm. Wir betrachten dies als Benachteiligung der Inklusion, weil die Landesregierung gleichzeitig in anderen Schulformen Maßnahmen ergreift, die einen erheblichen zusätzlichen Bedarf an qualifiziertem Lehrpersonal erzeugen (Erhalt auch sehr kleiner Förderschulen, Rückkehr zu G9).

- Die Qualitätsvorgabe, dass Schulen des Gemeinsamen Lernens ein Inklusionskonzept besitzen müssen oder es erarbeiten, ist aus unserer Sicht nicht erfüllt. Obwohl ein solches Konzept laut Erlass Voraussetzung für die Genehmigung einer Schule des Gemeinsamen Lernens ist, war dessen Existenz zum Schuljahresbeginn 2019/2020 bei vielen Schulen von der Schulaufsicht nicht einmal abgefragt.

Zudem ist es für viele Schulen – zum jetzigen Stand der inklusiven Entwicklung – eine fachliche Überforderung, tragfähige Inklusionskonzepte zu entwerfen. In den meisten Kollegien sind bisher nur einzelne Lehrer:innen für die Inklusion fortgebildet, so dass eine breit getragene Konzeptentwicklung auf hohem fachlichen Niveau schwierig ist. Leider liegen auch seitens der Schulministerin bis heute keine qualitativ-inhaltlichen Vorschläge für solche Konzepte vor, in denen etwa beispielhaft konkrete Konzepte für Fortbildung des Kollegiums, für die Strukturierung von Teamarbeit zwischen Lehrer:innen und Sonderpädagog:innen, für die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts zur Verfügung gestellt würden.

- Die Reduzierung der Zahl der weiterführenden Schulen des Gemeinsamen Lernens hindert Schüler:innen mit Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf an einer wohnortnahen Beschulung. Sie verhindert damit in vielen Fällen eine inklusive Beschulung.

Zwar könnte auch aus unserer Sicht eine Bündelung des Gemeinsamen Lernens eine vorübergehend sinnvolle Maßnahme im Prozess des Aufbaus eines inklusiven Schulsystems sein. Jedoch müsste eine solche Bündelung sicherstellen, dass allen Schüler:innen mit Behinderung dennoch eine inklusive Schule in zumutbarer Entfernung zur Verfügung steht. Außerdem ist eine solche Bündelung zwingend mit einer transparenten Perspektive zu versehen, wann weitere Schulen des Gemeinsamen Lernens dazu kommen. Beides leistet die „Neuausrichtung“ nicht.

Tatsächlich gibt es heute für viele Schüler:innen vor allem mit körperlichen und geistigen Behinderungen in Nordrhein-Westfalen keine inklusive weiterführende Schule in zumutbarer Nähe.

Ein Grund dafür ist, dass die Schulaufsicht den Schulen des Gemeinsamen Lernens die Genehmigung jeweils nur für bestimmte Förderschwerpunkte erteilt. Fast alle dieser Schulen unterrichten Schüler:innen mit Sprach- und Entwicklungsstörungen. Für Schüler:innen mit anderen Förderschwerpunkten ist das Angebot deutlich dünner.

Insbesondere für Schüler:innen mit geistiger Behinderung gibt es an vielen Orten selbst gar keine Möglichkeit der weiterführenden inklusiven Beschulung.

Inklusive Bildung ist für diese Jugendlichen nur möglich, wenn ihre Eltern sie täglich zweimal quer durch die Stadt oder kilometerweit über Land zur Schule fahren und abholen. Ein Schülertransport steht in der Regel nicht zur Verfügung. Der persönliche Preis für die Wahl der inklusiven Schule ist darüber hinaus der Abbruch der sozialen Einbindung mit den Nachbarskindern und den Mitschülern aus der Grundschule.

Um ihr Recht auf inklusive Bildung wahrzunehmen, müssen die Betroffenen damit erheblichen Aufwand und erhebliche Nachteile in Kauf nehmen. Dies widerspricht nicht nur der UN-Behindertenrechtskonvention, sondern auch dem Schulgesetz des Landes NordrheinWestfalen („sonderpädagogische Förderung findet in der Regel in der allgemeinen Schule statt. Abweichend davon können Eltern die Förderschule wählen.“)

In diesem Zusammenhang ist es nicht akzeptabel, dass die Schulministerin für den Aufbau der inklusiven Bildung jegliche Perspektive verweigert. Ohne eine solche Perspektive bleibt die Bündelung der weiterführenden Schulen des Gemeinsamen Lernens eine bloße Reduzierung der inklusiven Schulen. Sie erzeugt gleichzeitig in den anderen Schulen den Eindruck, sich mit einer eigenen inklusiven Entwicklung nicht mehr beschäftigen zu müssen. Inklusion ist Aufgabe der anderen. Notwendige Zeit für Fortbildung und Schulentwicklung wird damit abermals vergeudet. Auch in Zukunft wird so in jeder neuen Schule des Gemeinsamen Lernens der Eindruck entstehen, man habe nicht genug Zeit gehabt sich vorzubereiten. Der Aufbau der inklusiven Bildung wird damit faktisch gestoppt.

„Elternwahlrecht“

Fragen nach einer Planung oder Perspektive für den Aufbau der inklusiven Bildung in Nordrhein-Westfalen entgegnet die Landesregierung stets mit dem Hinweis, dass sie sich in ihrem Handeln ausschließlich am Schulwahlverhalten der Eltern ausrichte. Sie enthält sich damit beim politisch beschlossenen Aufbau eines inklusiven Schulsystems der politischen Gestaltung zugunsten eines „Elternwahlrechts“.

Dabei unterstellt sie, dass die Zahl der Anmeldungen an Förderschulen ein valider Ausdruck des Elternwillens sei. Aus der langjährigen Erfahrung der Elternberatung des mittendrin e.V. und aus unseren ständigen Kontakten mit Eltern von Förderschulen sowie deren Verbänden wissen wir, dass dies eine gravierende Fehleinschätzung ist.

Eltern von Kindern mit Behinderung wollen in aller Regel für ihr Kind ein Leben in der Mitte der Gesellschaft. Sie wollen für ihr Kind Inklusion, auch in der Schule. Sie – wir – leiden darunter, dass die Kinder am Wohnort nicht sozial eingebunden sind, kaum Kontakte zu Nachbarskindern haben, sowohl für Schule wie auch für Freizeitaktivitäten nicht einfach mit den anderen Kindern vor die Tür können, sondern von ihnen getrennt und an andere Orte gebracht werden müssen.

Wir leiden darunter, dass unsere Kinder Außenseiter:innen sind, nie einfach dazu gehören und dass der Kontakt mit ihnen für die jugendliche ebenso wie für die erwachsene Gesellschaft so ungewohnt ist, dass sie in der Öffentlichkeit immer und überall die Blicke auf sich ziehen. Wir leiden darunter, dass aus unseren nicht-inklusiven Schulen unaufhörlich eine nicht-inklusive Gesellschaft nachwächst.

Wenn Eltern ihr Kind dennoch an Förderschulen anmelden, ist dies kein Nachweis, dass sie eine getrennte Beschulung vorziehen. Es ist allenfalls der Nachweis, dass das Angebot an inklusiver Beschulung – in Quantität und Qualität – (noch) nicht gut genug ist.

Eltern melden Kinder an Förderschulen an, weil

- Wohnortnahe Schulen die Aufnahme ihres Kindes ablehnen oder die Eltern in der Begegnung mit Schulleitung oder Lehrer:innen Zweifel bekommen, dass ihr Kind dort willkommen ist,

- Dem Kind nur ein inklusiver Schulplatz in erheblicher Entfernung angeboten wird, zu dem sie das Kind täglich selbst hinfahren und abholen müssen und wo es auf kein einziges Kind seiner Wohnumgebung trifft,

- Sie sich angesichts der allgemeinen Belastung überfordert fühlen, für die inklusive Schule zusätzlich den Schultransport und dann auch noch nachmittags die Fahrten zu notwendigen Therapien organisieren zu müssen, siehe dazu folgenden Betroffenenbericht

- Die zugewiesene inklusive Schule kein befriedigendes Konzept hat und/oder schlecht ausgestattet ist und/oder für die besonderen Förderbedürfnisse des Kindes nicht kompetent erscheint, siehe dazu folgenden Betroffenenbericht

- Schulen ihren Unterricht nur wenig oder gar nicht inklusiv entwickeln und Kindern, die im diesem Regelbetrieb nicht zurechtkommen, so lange den Wechsel auf eine Förderschule nahelegen, bis die Eltern dem nachkommen, siehe dazu folgenden Betroffenenbericht

- In ihrer sozialen Umgebung (einschließlich KiTa-Personal, Ärzt:innen, Therapeut:innen) der Wunsch nach Inklusion für ihr Kind in Zweifel gezogen wird oder ihnen sogar abgeraten wird,

- Sie in ihrer sozialen Umgebung und aus den Medien keine positiven Beispiele inklusiver Bildung kennen oder oft von negativen Erfahrungen hören,

- Sie den Schluss gezogen haben, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung in unserer Gesellschaft so wenig geschätzt oder gar abgelehnt werden, dass sie eine getrennte und beschützende Umgebung brauchen.

Tatsächlich gibt es für viele Eltern von Kindern mit Behinderung bis heute gar nicht die Möglichkeit, für ihr Kind eine gute und freundliche inklusive Schule zu wählen.

Melden sie deswegen an einer Förderschule an, wird diese Anmeldung im politischen Raum als „Wahl“ und als Nachweis der Beliebtheit von Förderschulen gezählt. Nicht wenige „Förderschuleltern“ erzählen uns, dass sie sich in dieser politischen Debatte instrumentalisiert fühlen, siehe dazu folgenden Betroffenenbericht

Was wir aktuell in der Schulpolitik vermissen, ist die ernsthafte und konstruktive Debatte, wie wir in Nordrhein-Westfalen mit effektiven Maßnahmen den Aufbau eines flächendeckenden Angebots guter inklusiver Bildung schaffen. Damit jedes Kind und jeder Jugendliche unabhängig von Art und Schwere einer Behinderung im örtlichen Umfeld die Möglichkeit guter inklusiver Bildung hat – dort, wo auch die Nachbarskinder lernen.

Unbearbeitete Probleme

Abschließend möchten wir noch auf einige Aufgaben und Fehlentwicklungen hinweisen, die aus unserer Sicht von der Schulministerin dringend bearbeitet werden müssten.

- Bewusstseinsbildung

Auch in der aktuellen Regierungsperiode wird aus unserer Sicht viel zu wenig getan, um den politisch beschlossenen Aufbau der inklusiven Bildung durch Information und Überzeugungsarbeit zu vermitteln. Wir vermissen, dass die Schulministerin den Aufbau der inklusiven Bildung überzeugend und engagiert vertritt und der Öffentlichkeit sowie den am Schulleben Beteiligten den pädagogischen und gesellschaftlichen Mehrwert der inklusiven Bildung anschaulich vermittelt. Bisher hat sie sich in ihrer Kommunikation leider im Wesentlichen auf wenige wiederholt verwendete und in der Sache sehr defensive Sätze beschränkt, die hier fast vollständig aufgezählt werden:

„Die Landesregierung steht zum Menschenrecht auf Inklusion“. „Wir werden den Weg der inklusiven Bildung weiter gehen.“ „Bei uns steht die Qualität und nicht die Quote im Vordergrund.“ „Wir sind nicht dabei, die Inklusion abzuschaffen.“ „Wer über Inklusion redet, muss auch über Förderschulen sprechen.“

Auch die neu eingeführte Social-Media-Kommunikation des Ministeriums tut wenig, um für das politisch beschlossene Ziel der inklusiven Bildung zu werben. Von den aktuell rund 1.500 Tweets des Twitter-Accounts @BildungslandNRW ist nur ein einziger zu finden, der sich positiv auf schulische Inklusion bezieht, ohne gleichzeitig den Erhalt aller Förderschulen zu propagieren.

Eine überzeugende Kommunikation über inklusive Bildung wäre umso wichtiger, als es Schulministerin Gebauer (s.o.) nicht gelungen ist, den im Landtagswahlkampf entstandenen Eindruck zu widerlegen, dass die aktuelle Landesregierung in den Förderschulen letztlich den besseren Bildungsort für Kinder und Jugendliche mit Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf sehe. Schulleitungen und Lehrer:innen werden ihr Ermessen in der Umsetzung von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen immer nach dem angenommenen Willen der Schulministerin auslegen. Dieser Mechanismus hat direkte reale Auswirkungen auf das Recht einzelner Kinder auf inklusive Bildung.

Wir beobachten vor allem im Rahmen von Abschulungen oder angestrebten Abschulungen immer häufiger, dass Lehrer:innen schnell die Ansicht vertreten, Kinder seien besser auf einer Förderschule aufgehoben, anstatt dass sie zunächst die Fördermaßnahmen der Schule hinterfragen. Der Rat zur Abschulung auf eine Förderschule wird als einfache und ihnen als Lehrer:in zustehende pädagogische Entscheidung betrachtet – vergleichbar der Entscheidung über die Versetzung in die nächste Jahrgangsstufe. Das Recht des Kindes auf inklusive Bildung wird nicht ernst genommen. Hier greift ein Rechtsempfinden um sich, das nicht nur der UNBehindertenrechtskonvention, sondern auch dem NRW-Schulgesetz widerspricht. Dies sieht schließlich vor, dass Ausstattung und Bedingungen für die Inklusion eines Kindes an der Schule geschaffen werden müssen, sofern sie noch nicht vorhanden sind.

- Entwicklung der AO-SF-Zahlen

Schon seit dem Beginn der inklusiven Entwicklung in Nordrhein-Westfalens Schulen ist die Zahl der Bescheidungen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs stetig und deutlich gestiegen. Die Gesamtzahl der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist von weniger als 120.000 im Jahr 2010 auf inzwischen über 148.000 gestiegen. Diese Zunahme ist umso beachtenswerter, als die allgemein steigenden Schüler:innenzahlen in den meisten Jahrgangsstufen noch gar nicht angekommen sind.

Gleichzeitig sind ungeachtet der inklusiven Entwicklung die Schüler:innenzahlen der Förderschulen in den Schwerpunkten KM, GG, Em-Soz und Sprache konstant geblieben beziehungsweise sogar steigend. Dies bedeutet, dass die inklusive Bildung bei Kindern mit körperlichen und geistigen Behinderungen, aber auch bei Kindern mit den Förderschwerpunkten Em-Soz und Sprache noch gar nicht angekommen ist. Es bedeutet damit auch, dass viele Schüler:innen, die mit sonderpädagogischen Förderbedarfen in den allgemeinen Schulen lernen, über das vorherige statistische Maß hinaus diagnostiziert worden sind. Der Schluss liegt nahe, dass viele dieser Schüler:innen vor Beginn der inklusiven Entwicklung als „Regelschüler:innen“ die allgemeine Schule besucht hätten.

All dies sind Anzeichen dafür, dass sich die Maßstäbe für die Diagnose sonderpädagogischer Förderbedarfe verschoben haben und weiter verschieben mit der Folge, dass ein stetig höherer Anteil der Kinder- und Jugendjahrgänge amtlich als sonderpädagogisch förderbedürftig beschieden wird und – in den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung – mit erheblich reduziertem Lernstoff unterrichtet wird.

Geradezu erschreckend ist die Entwicklung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Dieser Förderschwerpunkt, der den Lernstoff der allgemeinen Schule überwiegend durch lebenspraktische Bildung ersetzt, wird in Nordrhein-Westfalen laut den Zahlen der Bertelsmann-Stiftung und der Auswertung durch Knauf/Knauf inzwischen 30 (!) Prozent mehr Schüler:innen bescheinigt als vor zehn Jahren, mit einer Steigerung der Schüler:innenzahlen in den Förderschulen GG um 20 Prozent.

Diese Entwicklung sollte die verantwortliche Schulpolitik in allergrößte Sorge versetzen. Im Jahre 2010 haben wir in der Primarstufe und Sekundarstufe 1 noch 5,7 Prozent jedes Schüler:innenjahrgangs eine schulisch relevante Behinderung zugeschrieben. Heute sind es schon 8,5 Prozent eines Jahrgangs. Wie lange will die Schulpolitik dieser Entwicklung weiter tatenlos zusehen? Bis wir 10 Prozent aller Schüler:innen sonderpädagogisch fördern? Oder 12 Prozent? Und was heißt das für das Bildungsniveau der kommenden Generation? Leider müssen wir eine Auseinandersetzung mit diesem Problem vermissen.

- Jüngste Entwicklung in Zeiten von Corona

Seit der Wiederöffnung der Schulen im Mai haben viele Elternverbände in NordrheinWestfalen eine erhebliche Anzahl von Anfragen verzeichnet, in denen Schüler:innen mit körperlichen und geistigen Behinderungen aus Gründen des Infektionsschutzes die Teilnahme am Präsenzunterricht von Schulen untersagt oder zumindest nicht empfohlen worden ist. Dies geschah bei pflegebedürftigen Schüler:innen, bei Schüler:innen, die nicht durchgängig einen Mund-Nasen-Schutz tragen können und in einigen Schulen für Schüler:innen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in der pauschalen Vermutung, sie seien nicht imstande, die Hygieneregeln einzuhalten.

Trotz mehrfach wiederholter Bitten der Verbände, das Ministerium möge das Bildungsrecht von Kindern und Jugendlichen mit Schwerbehinderung auf dem Wege einer unmissverständlichen öffentlichen Kommunikation sicherstellen, ist der Ministerin dies offensichtlich nicht gelungen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Stellungnahme – dem 10. August 2020 – erreichen den mittendrin e.V. bereits wieder Hilfegesuche von Familien, denen mit Verweis auf den Infektionsschutz der (Förder-)Schulbesuch im neuen Schuljahr verweigert werden soll.

Es ist uns als Bürger:innen dieses Landes inzwischen nicht mehr erklärlich, warum es einer Schulministerin nicht gelingt, den eigenen Bediensteten in den Schulen zu vermitteln, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung das gleiche Recht auf Bildung und Teilhabe haben wie alle anderen Schüler:innen auch.

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