11 Jahre Sonderschule - ohne Behinderung

Es war im Sommer 2014, als der Kölner Menschenrechtsaktivist Kurt Holl die Sonderschule „geistige Entwicklung“ Auf dem Sandberg besuchte. Seit Jahrzehnten schon setzte Holl sich für ein Bleiberecht und für Lebensperspektiven zugewanderter Roma ein.

Er kümmerte sich um die Familien. An diesem Tag wollte er nach dem Kind einer Roma-Familie schauen und mit den Lehrern reden – und traf auf dem Schulhof unvermittelt auf den 17jährigen Nenad, einen völlig „normal“ begabten jungen Mann. „Was machst Du denn hier?“

Zu diesem Zeitpunkt war Nenad schon seit mehr als 6 Jahren Schüler der Geistigbehindertenschule in Köln. Und davor mehrere Jahre Schüler einer Geistigbehindertenschule in Bayern. Nun traf er erstmals einen Menschen, von dem er sich Hilfe versprach. „Ich will hier raus“, sagte Nenad.

11 Jahre Sonderschule „Geistige Entwicklung“, als „normal“ begabter Junge. Wie kann so etwas möglich sein? In einem Sonderschulsystem, in dem Pädagogen arbeiten, die gerade in Sachen Diagnostik und Förderung besonders hoch qualifiziert sind? In einem Sondersystem, für das es Regeln gibt, unter anderem die, das Förderbedarf und Förderort eines jeden Schülers jährlich zu überprüfen sind?

Zusammen mit Kurt Holl und Nenad vereinbarten wir im September einen Termin in der Sonderschule. Nenad stand kurz vor seinem 18. Geburtstag und damit vor dem Ende der Schulpflicht. Wenn er noch die Chance haben sollte auf dem ersten Bildungsweg einen Schulabschluss zu machen, blieb nicht viel Zeit für den Schulwechsel. Wir baten die Schule, ihn auf einem Berufskolleg hospitieren zu lassen. Die Schulleiterin lehnte ab: Das könne sie nicht entscheiden und so schnell ginge das schon einmal gar nicht.

Wir fragten die Lehrer, ob sie nicht bemerkt hätten, dass bei Nenad keine geistige Behinderung vorliegt. Sie beteuerten, dass sie Nenad immer anspruchsvolleren Lernstoff gegeben hätten als seinen Mitschülern. Aber: Ob keine geistige Behinderung vorliegt, hätten sie nicht beurteilen können, weil Nenad nur sehr unregelmäßig zur Schule gekommen sei. Wir fragten, wie sie denn – umgekehrt gesehen - den Förderbedarf geistige Entwicklung jedes Jahr hätten bestätigen können, wenn er nur so selten zur Schule gekommen sei? Schulterzucken, Bemerkungen über Nenads schwierige Familienverhältnisse, und über die vielen unentschuldigten Fehltage.

In Nenads Schulakte findet sich ein Protokoll eines „Erziehungsgesprächs“. Nenad hatte seit seinem 11. Lebensjahr immer wieder gebeten die Schule wechseln zu dürfen und schließlich mit einem Amoklauf gedroht. Das Lehrergespräch über die Amok-Drohung wurde protokolliert. Vorkehrungen für einen Schulwechsel des Jungen finden sich dagegen nicht.

Nach dem Termin in der Sonderschule war klar, dass hier keine Kooperation zu erwarten war, um Nenad doch noch einen Schulabschluss zu ermöglichen. Zusammen mit Kurt Holl überzeugten wir Nenads Mutter, ihn ohne weitere Verhandlungen an einem Berufskolleg anzumelden. Dort stieg Nenad nach den Herbstferien in die schon laufende Ausbildungsvorbereitungsklasse ein. Das Ziel: Bis zum nächsten Sommer den „Hauptschulabschluss nach Klasse 9“ nachzuholen.

Nenad startete seine zweite Schullaufbahn mit schlechten Voraussetzungen: Er konnte lesen, schreiben und die Grundrechenarten, dazu ein paar Worte Englisch. Das war´s. Und doch bewies er fortan Tag für Tag, dass die Sonderpädagogen falsch gelegen hatten. Er versäumte keinen einzigen Unterrichtstag. Er schaffte den Hauptschulabschluss 9 als Jahrgangsbester. Er legte ein weiteres Jahr später auch den Hauptschulabschluss 10 mit Bestnoten ab – und ist jetzt auf dem Weg zum Realschulabschluss.

Bleibt die Frage, wie unserem Sonderschulsystem ein solcher Skandal unterlaufen kann. In der Debatte um schulische Inklusion vergeht kein Tag, an dem die Sonderschulen nicht als das bessere Schulsystem verteidigt werden. Als Hort höchst qualifizierter Förderung, an dessen Niveau die allgemeinen Schulen erst einmal herankommen müssten. Der Fall Nenad zeigt wie dünn der Firnis der Qualität ist. Ein Sondersystem hoch qualifizierter Experten, das nicht einmal in der Lage ist Fehldiagnosen zu erkennen und falsche Entscheidungen zu korrigieren? Und das in zwei Sonderschulen zweier Bundesländer, mitsamt der zuständigen Schulaufsichten?

Besonders beschämend ist, dass die zuständige Bezirksregierung Köln bis heute kein Fehlverhalten der Schule erkennen will. Nenad klagt jetzt auf Schadenersatz für seinen verhunzten Bildungsweg. Wir werden ihn dabei unterstützen.

 

Für die Prozesskosten haben wir ein Spendenprojekt bei betterplace angelegt:

"Prozesskostenhilfe: Nenad gegen das Land NRW"

Der WDR zeigt Nenads Geschichte am 20. Oktober 2016 in seiner Sendereihe „Menschen hautnah“.

Schlagworte

  • Förderschule
  • NRW