LVR plant neue Förderschulen: Inklusion bleibt Lippenbekenntnis

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) könnte viel für den Aufbau der inklusiven Bildung tun - wenn er denn wollte. Aber im Zweifel baut man offensichtlich lieber Förderschulen. Und ignoriert dafür nicht nur den Protest der Vertreter:innen der Menschen mit Behinderung, sondern auch die eigenen Beschlüsse.

Pressemitteilung der Vertreter*innen des Landesbehindertenrates im LVR-Beirat für Inklusion und Menschenrechte:

Landschaftsverband Rheinland (LVR) plant vier neue Förderschulen und verliert damit jede Glaubwürdigkeit bei der inklusiven Bildung

Vertreter*innen des Landesbehindertenrates protestieren gegen Planungen des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), gleich vier neue zusätzliche Förderschulen zu bauen. Der Vorsitzende des Landesbehindertenrates, Peter Gabor, ist entsetzt über das Vorgehen des LVR: „Nach 13 Jahren Rechtsgültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Planung von zusätzlichen Förderschulen völlig inakzeptabel. Auch der LVR ist an die Verpflichtung zum Aufbau der inklusiven Bildung gebunden. Stattdessen will der Verband mit noch mehr Förderschulen das Sondersystem zementieren.“

Der Landschaftsausschuss des LVR hatte am heutigen Mittwoch Zielplanungen für die neuen Förderschulen mit dem Schwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung beschlossen und den Protest der Landesbehindertenrats-Vertreter*innen im LVR-Ausschuss für Inklusion vom vergangenen Montag (siehe Erklärung unter dieser Pressemitteilung) weggewischt.  Die Standorte der neuen zusätzlichen Förderschulen sollen im westlichen Ruhrgebiet, im Raum Kleve/Wesel, im Raum Düren/Rhein-Erft-Kreis und im Raum Rhein-Sieg-Kreis/Oberberg gesucht werden.

Die Verwaltung des LVR hat in ihrer aktuellen Schulentwicklungsplanung den Bau der Schulen als einzige konkrete Möglichkeit vorgestellt, einen von ihr prognostizierten zukünftigen Mangel an Schulplätzen für Schüler*innen mit Körperbehinderung zu beheben. Dabei hatte das LVR-Parlament der Verwaltung erst vor zwei Jahren ein Handlungskonzept an die Hand gegeben, nach dem die Verwaltung vorrangig „alle denkbaren Möglichkeiten“ ausschöpfen soll, die Kommunen beim Aufbau guter inklusiver Schulplätze zu unterstützen. Wie der Beschlussvorlage zu entnehmen ist, ist der LVR-Verwaltung jedoch keine Möglichkeit eingefallen, wie sie die Kommunen bei der Inklusion wirksam unterstützen könnte.

Die Politiker*innen im LVR-Landschaftsausschuss haben die Planung heute trotz dieser Mängel in der Beschlussvorlage der Verwaltung durchgewunken. Dabei wäre die Aufgabe überschaubar: Rund fünf Schulplätze für Schüler*innen mit körperlichen Behinderungen pro Jahr und pro Kommune in den Zielgebieten würden reichen, den Bau von vier neuen Förderschulen mit absehbaren Kosten in dreistelliger Millionenhöhe zu ersetzen. Bei der Schaffung dieser Plätze, so die Selbstvertreter*innen, sollte der LVR seine Mitgliedskommunen unterstützen.

Claudia Seipelt-Holtmann als stellvertretendes Vorstandsmitglied des Landesbehindertenrates und Sprecherin des Netzwerkes Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW verlangt vom LVR, andere Wege zu gehen: „Der Kreislauf von fehlenden attraktiven Schulplätzen im Gemeinsamen Lernen auf der einen Seite und dem Bau von Förderschulen auf der anderen Seite muss endlich durchbrochen werden.“

Die Landesbehindertenrats-Vertreterin für den LVR-Beirat, Eva-Maria Thoms vom Elternverein mittendrin e.V., protestiert auch gegen die mit dem Bau neuer Förderschulen verbundenen Investitionen in absehbar dreistelliger Millionenhöhe: „Solche immensen Ausgaben für Sondersysteme sind eindeutig ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Kommunen wissen nicht, woher sie das Geld nehmen sollen, um ihre Schulen barrierefrei zu machen. Und der LVR, der über die Landschaftsumlage vom Geld genau dieser Kommunen lebt, steckt es großzügigst in den Bau von Förderschulen.“

Inzwischen weitet sich der Protest gegen die LVR-Förderschulplanungen aus. Der Vorsitzende der LAG SELBSTHILFE NRW, Bernd Kochanek, bezeichnete den LVR-Beschluss heute als „beispiellosen politischen Skandal“.

 

Und diese Erklärung hatten die Vertreter:innen des Landesbehindertenrates am 18.9. 2022 im LVR-Ausschuss für Inklusion abgegeben:

ERKLÄRUNG ZU TOP 6.5

Schulentwicklungsplanung: Regionale Zielplanungen für die Sicherstellung der Beschulung im Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung, Vorlage 15/1072 K

Die Vertreter*innen des Landesbehindertenrates im LVR-Beirat für Inklusion und Menschenrechte (LBR-Pool) protestieren gegen die in der Vorlage eingeleitete Planung von vier neuen zusätzlichen LVR-Förderschulen für körperlich-motorische Entwicklung im Verbandsgebiet und fordern den Landschaftsausschuss dringend auf, die anstehende Beschlussfassung über diese Vorlage auszusetzen.

Gleichzeitig erinnert der LBR-Pool daran, dass seine Vertreter*innen im Rahmen der Bemühungen des LVR zu Partizipation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in die Arbeit der LVR-Gremien geladen sind und diese Gremien beraten sollen. In diesem Zusammenhang sind wir irritiert, dass eine für die inklusive Entwicklung so wesentliche Beschlussvorlage dem Beirat für Inklusion und Menschenrechte erst zur Kenntnis vorgelegt wird, wenn sie vom Schulausschuss bereits beschlossen ist und die letztendliche Beschlussfassung im Landschaftsausschuss unmittelbar bevorsteht, so dass der LBR-Pool seine beratende Funktion nicht mehr realistisch wahrnehmen kann.

Die vorgelegte Schulentwicklungsplanung basiert auf den Prognosen zur Entwicklung der Schüler*innenzahlen seitens des Wuppertaler Instituts für bildungsökonomische Forschung (WIB), die der Vorlage angefügt sind.

Diese Prognosen wurden vom WIB unter der Grundannahme erstellt, dass die Landesregierung ihrer Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems und der Verbesserung der Bedingungen für Schüler*innen mit Behinderung in allgemeinen Schulen weiterhin nicht nachkommt und Eltern auch in der Zukunft keine attraktiven Beschulungsmöglichkeiten für ihre behinderten Kinder in den allgemeinen Schulen zur Verfügung stehen. Nur unter diesen Bedingungen ist mit einer konstanten Förderschulbesuchsquote zu rechnen.

Weiter argumentiert das WIB auf womöglich noch stärker steigende Schüler*innenzahlen der Förderschulen durch die seit Jahren steigenden Zahlen festgestellter sonderpädagogischer Förderbedarfe, ohne darauf hinzuweisen, dass diese Entwicklung im Ministerium für Schule und Bildung (MSB) längst in Frage gestellt wird. Aktuell gibt das MSB ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag, um die Gründe der steigenden Anzahl von Verfahren nach AO-SF zu untersuchen und in der Folge ggf. Änderungen des AO-SF-Verfahrens einzuleiten.

Vor diesem Hintergrund empfehlen wir der Landschaftsversammlung ebenso wie der Verwaltung des LVR dringend, die inklusionspolitischen Schwerpunktsetzungen der neuen Landesregierung und insbesondere des Ministeriums für Schule und Bildung abzuwarten, bevor Planungsaufträge über Schulbauinvestitionen in dreistelliger Millionenhöhe beschlossen werden. Dies gilt insbesondere, als die Schulministerin neben der Auftragsvergabe des Gutachtens über die Ursachen der steigenden Förderzahlen am 14.9. im Schulausschuss des Landtags das Erstellen eines Aktionsplans Inklusion für die Schulen zu einer der prioritären Aufgaben am Beginn ihrer Amtszeit erklärt hat.

Wir weisen außerdem darauf hin, dass wir auf Basis der Vorlage den Schritt 1 des Handlungskonzepts Schulraumkapazität 2030 nicht erfüllt sehen.

Die Verwaltung legt zwar dar, dass sie Kommunen um freie Schulraumkapazitäten angefragt hat, aus dem Zusammenhang zu schließen für eine Anmietung oder gemeinsame Nutzung. Sie legt jedoch nicht dar, dass und wie sie mit den Kommunen der Einzugsgebiete konkrete Gespräche geführt hat, wie vor Ort und ggf. in Zusammenarbeit von Kommune und LVR attraktive Schulplätze im Gemeinsamen Lernen im Sinne des Schulgesetzes NRW aufgebaut werden können, um künftig Schüler*innen im Förderschwerpunkt KME eine Alternative zur Anmeldung an einer LVR-Förderschule zu bieten und so die LVR-Förderschulen zu entlasten.

Es sind also nicht alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Dies ist umso unverständlicher, als die Prognose zwar insgesamt für alle vier Gebiete mit einem zusätzlichen Bedarf von 560 Schulplätzen kalkuliert – dies aber aus Sicht der mindestens 50 einzelnen Kommunen in den Einzugsgebieten jeweils die Einrichtung einer nur einstelligen Zahl von inklusiven Schulplätzen pro Jahrgang bedeuten würde.

Unterm Strich ist die vorliegende Schulentwicklungsplanung völlig aus der Zeit gefallen und angesichts der Verpflichtung aller Träger öffentlicher Belange an die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung nicht akzeptabel.

Schlagworte

  • Förderschule
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