NRW muss Schadensersatz an Förderschüler zahlen

Das Landgericht Köln hat heute im Verfahren Nenad M. gegen das Land NRW ein Teil-Urteil verkündet. Das Gericht bestätigte, dass das Land NRW Nenad M. Schadenersatz zahlen muss. Es geht davon aus, dass er beim Besuch einer allgemeinen Schule mit 16 Jahren einen Schulabschluss abgelegt hätte.

Dies sei ihm durch die dramatisch unterfordernde Beschulung an einer Sonderschule für Schüler mit geistiger Behinderung verwehrt worden, mit entsprechenden Folgenn für seine berufliche Perspektive.

Die Höhe des Schadenersatzes will das Landgericht erst ermitteln, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Dies wäre der Fall, wenn das Land NRW auf die Berufung verzichtete oder wenn das zuständige Oberlandesgericht das Urteil bestätigte.

Nenad M. hatte insgesamt fast 11 Jahre auf Sonderschulen verbracht, davon 6 Jahre auf der Kölner Förderschule Auf dem Sandberg. Erst kurz vor seinem 18, Geburtstag gelang ihm mit Hilfe des Rom e.V. und des mittendrin e.V. der Wechsel an ein Berufskolleg, an dem er mit Bestnoten seinen Hauptschulabschluss nachholte. Im Jahr 2016 erhob er Schadenersatz-Klage gegen das Land NRW.

Der Kölner Elternverein mittendrin e.V., der Nenad M. bei der Klage unterstützt hat, begrüsst das Urteil. "Nenads Geschichte ist kein Einzelfall", sagt die mittendrin-Vorsitzende Eva-Maria Thoms, "wir kennen andere Förderschüler denen es ähnlich ergangen ist. Deshalb fordern wir Schulministerin Yvonne Gebauer auf, die Förderschulen auf weitere Fälle zu überprüfen. Gerade nach diesem Urteil ist es nicht zu verantworten, dass andere betroffene Schüler sich selbst überlassen bleiben. Die Ministerin hat hier eine Sorgfaltspflicht." Im Fall von Nenad M. hatten die Förderschullehrer den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung einfach jedes Jahr fortgeschrieben, obwohl längst offensichtlich war, dass bei dem Schüler keine geistige Behinderung vorlag.

Der Fall Nenad M. stellt jetzt die gesamte sonderpädagogische Diagnostik auf den Prüfstand. Denn offenbar ist nicht gewährleistet, dass Fehl-Gutachten erkannt und fehlerhafte Einstufungen von Kindern und Jugendlichen korrigiert werden. In der Folge werden junge Menschen ihrer Bildungs- und Berufschancen beraubt. Ebenso wirft der Fall Nenad M. die Frage auf, ob die Sonderschulen ihrem guten Ruf tatsächlich gerecht werden. Die oft behauptete exzellente individuelle Förderung jedes Schülers würde einen Fall wie den des Nenad M. verhindern.

Auf die Stellungnahme des NRW-Schulministeriums zum Urteil reagierte der mittendrin e.V. mit Verärgerung. Das Ministerium hatte verlauten lassen: "Seit 2014 räumt das Schulgesetz den Eltern einen Rechtsanspruch ein, sich für eine Förderschule oder eine allgemeine Schule zu entscheiden und gilt mittlerweile für nahezu alle Jahrgänge der Pflichtschulzeit. Damit wurde der Elternwille deutlich gestärkt. Diese Regelungen sollen dazu führen, dass ein solcher Fall sich nicht wiederholt."

Diese Reaktion geht nach Ansicht des mittendrin e.V. auf geradezu absurde Art am Thema vorbei und zeugt bestenfalls von großer Ahnungslosigkeit. "Wenn das staatliche Schulwesen gegen seine eigenen Gesetze verstößt, kann die Landesregierung nicht im Ernst vorschlagen, dass betroffene Eltern dies ausbügeln", sagt die mittendrin-Vorsitzende Eva-Maria Thoms, "da muss man seinen Laden schon selbst in Ordnung bringen". Zudem seien fehlerhafte Gutachten ja noch lange nicht berichtigt, wenn es den Eltern gelingen sollte ihr Kind die Schule wechseln zu lassen.

Der mittendrin e.V weist noch einmal darauf hin, dass Nenads Geschichte kein Einzelfall und kein Problem der Vergangenheit ist. "Wir wissen von aktuellen Fällen falsch etikettierter Schüler auf Sonderschulen. Wir können sie nur leider nicht veröffentlichen, weil die Betroffenen dies nicht möchten". Auch haben sich seit gestern aufgrund der Berichterstattung weitere Eltern bei dem Verein gemeldet, die von ähnlichen Problemen mit Gutachten und Schulwechseln berichten.

Spätestens nach dem gestrigen Urteil müsse das Schulministerium tätig werden. Dringend notwendig ist eine Überprüfung der Sonderschulen durch unabhängige Experten, um sicher zu stellen, dass Schülerinnen und Schüler mit falschen Diagnosen nicht länger auf Schulen bleiben müssen, die ihnen keine angemessene Bildung bieten können.

In seiner urteilsbegründung stellt das Kölner Landgericht stellt zur Klage des ehemaligen Förderschülers Nenad M. gegen das Land NRW (AZ 5 O 182/16) erhebliche Verstöße der Landesbediensteten gegen ihre Amtspflichten fest und beurteilt ihr Handeln als rechtlich nicht vertretbar.

Die Kammer bezieht die Amtspflichten der Lehrer und der Schulaufsicht auf die Bestimmungen des Schulrechts, die dazu dienen, "jedem die seinen Fähigkeiten entsprechende bestmögliche Bildung zukommen zu lassen (vgl. nur § 1 Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15.02.2005).", aus denen sich zweifelsfrei ergebe, dass die weiter führenden Gesetze, Erlasse und Verordnungen dem Schutz des einzelnen Schülers zu dienen bestimmt seien.

"Gegen sich hieraus ergebende Verpflichtungen haben die Bediensteten des beklagten Landes verstoßen."

Das Gericht stellt fest, dass bereits "die Feststellung in dem Zeugnis vom 29.06.2009, wonach beim Kläger weiterhin sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bestand, falsch war."

Als Maßstab nennt das Gericht hier die per Verordnung festgelegte Definition für diesen Förderschwerpunkt: Wenn das schulische Lernen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit dauerhaft und hochgradig beeinträchtigt ist, und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Schülerin oder der Schüler zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt (§5 AO-SF).

Angewendet auf den Kläger argumentiert das Gericht mit Rückgriff auf den Inhalt des Zeugnisses, nach dem der Kläger unter anderem "die behandelten Unterrichtsthemen interessiert verfolgt und den Unterricht in allen Gesprächssituationen mit ausformulierten Beiträgen und umfassendem Wissen bereichert habe":

Dass damit die Voraussetzungen für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung erfüllt waren, so das Gericht, " lässt sich bereits dem Zeugnis vom 26.09.2009 nicht entnehmen."

Bereits zu diesem Zeitpunkt "hätte es den zuständigen Bediensteten der Schule Auf dem Sandberg sowie gegebenenfalls der Schulaufsichtsbehörde oblegen, den Fortbestand des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei dem Kläger in dem nach der AO-SF vorgeschriebenen Verfahren zu überprüfen."

Das Nicht-Handeln der Lehrer sei schon zu diesem Zeitpunkt rechtlich nicht vertretbar gewesen. Nenad M. hatte die Sonderschule noch weitere fünf Jahre bis zum September 2014 besuchen müssen.  

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