Alles Klientelpolitik?

/ Eva-Maria Thoms

Die Debatte um die Inklusion in den Schulen ist geprägt von einer beschämenden Oberflächlichkeit. Wer dem Tenor der Berichterstattung glaubt, gewinnt zum Beispiel den Eindruck, in Deutschland seien flächendeckend Sonderschulen geschlossen und deren Schüler auf die allgemeinen Schulen verteilt worden.

Dort, scheint es, verursachten sie so große Probleme, dass es bereits die Leistungsstatistiken der Schulen drücke. Dass an diesem Bild etwas nicht stimmen kann, erfährt nur, wer tiefer taucht und Fragen stellt. Das tut Brigitte Schumann in ihrer „Streitschrift Inklusion“.

- Woher kommen die vielen sogenannten „Inklusionsschüler“, wenn doch die Schülerzahl der Sonderschulen kaum gesunken ist?

- Warum gibt es in Deutschland so viele lernbehinderte Schüler, während die meisten europäischen Nachbarstaaten eine solche Form der Behinderung gar nicht kennen?

- Warum ist den Schulpolitikern heute das „Elternwahlrecht“ so wichtig, während der noch vor wenigen Jahren gültige Sonderschulzwang sie nicht im Geringsten störte?

- Warum haben Sonderschulen ein so glänzendes Image, obwohl sie ihre Qualität nie in Tests á la PISA nachgewiesen haben, und obwohl ihre Quote an Schulabschlüssen kläglich ist?

- Warum werden die deutschen Bemühungen um inklusive Schulen von der UNO so vernichtend beurteilt, und warum hört man davon nichts?

Brigitte Schumann hat für ihre „Streitschrift Inklusion“ Quellen aus Jahrzehnten deutscher Sonderschulpolitik zusammen getragen. Sie belegt, wie immens seit jeher der Einfluss der Sonderpädagogenverbände auf die Politik der Kultusministerkonferenz ist – jenes Gremiums, das angesichts der Hoheit der Bundesländer in Sachen Schulpolitik dafür sorgen soll, dass Schulbildung in Deutschland wenigstens irgendwie vergleichbar ist und einheitlichen Qualitätsstandards entspricht. Kurz gesagt: So wie die deutsche Landwirtschaftspolitik jahrzehntelang vom Bauernverband mit seinen großbäuerlichen Funktionären bestimmt wurde (was weder kleineren Bauern noch der ökologischen Landwirtschaft gut getan hat), wird die deutsche Sonderschulpolitik vom Verband Sonderpädagogik geprägt.

Von der Aufwertung des Berufsbild des Sonderpädagogen im nationalsozialistischen Deutschland bis zum Eiertanz um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zeichnet Schumann das Bild eines Lobbyverbandes, der es stets verstanden hat, seinen berufsständischen Status und sein Arbeitsfeld in den Sonderschulen schulpolitisch absichern und ausbauen zu lassen. Seit den 50er Jahren liefert er Formulierungen für Entschließungen der Kultusministerkonferenz, er war und ist mit Verbandsfunktionären in den fachlichen Arbeitsgruppen der KMK präsent. Er erreichte, dass Deutschland (West und das vereinigte Deutschland) bis in die jüngste Vergangenheit ein Sonderschulsystem auf- und immer weiter ausgebaut hat, das in Umfang und Ausgestaltung international beispiellos ist.

Nirgendwo auf der Welt besuchen so viele Schüler Sonderschulen wie hier. Von der internationalen pädagogischen Diskussion, die sich spätestens in den 90er Jahren von der Idee verabschiedete, dass Schüler mit Behinderung besser in Sonderschulen lernen würden, hat sich die deutsche Sonderpädagogik zunehmend abgekoppelt. Das Bekenntnis der UNO zur inklusiven Bildung wird als Zumutung empfunden. Man will die Sonderschulen unbedingt behalten – und hat auch das als Linie der Kulturministerkonferenz etabliert.

Widerstand war zumindest von Seiten konservativer Schulpolitik nicht zu erwarten. Ein Ende des deutschen Sonderschulsystems, das neben den im medizinischen Sinne behinderten Schülern vor allem auch viele arme Kinder und Migranten vom restlichen Schulsystem fernhält, könnte auch die deutsche Bildungsdoktrin des gegliederten Schulwesens zur Diskussion stellen.

So zeichnet Brigitte Schumann nach, wie Deutschlands oberste Schulpolitiker alles tun, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen zu vermeiden, ohne damit allzu viel Staub aufzuwirbeln. Die desaströse Beurteilung des deutschen Staatenberichts durch den UN-Fachausschuss, die dringende Empfehlung endlich mit dem Abbau der Sonderschulen zu beginnen, der in Teilen deutlich auf Deutschland zielende Rechtskommentar des UNO-Gremiums zu Artikel 24 der Konvention („General Comment No. 4“) - all dies taucht in der Öffentlichkeitsarbeit der KMK nicht auf. Man verschweigt den Zwist mit der UNO einfach – in der leider zutreffenden Erwägung, dass die Medien ohnehin nur berichten, wenn es von deutschen Stellen eine Presseerklärung gibt.

In der „Streitschrift Inklusion“ nimmt nun erstmals die deutsche Vorsitzende des UN-Fachausschusses, Prof. Theresia Degener, zur deutschen Schulpolitik öffentlich Stellung. In ihrem Vorwort zu Brigitte Schumanns Buch schreibt sie: „Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zu den Menschenrechten und hat nach 1945 eine erstaunliche, nicht immer hoffnungsvolle, aber letztendlich rechtsstaatliche und demokratische Entwicklung genommen. Wer verstehen will, warum sich diese rechtsstaatliche, demokratische Entwicklung nicht durchgängig in der Bildungspolitik niedergeschlagen hat, warum das deutsche Bildungssystem eines der weltweit segregierendsten, an Apartheid grenzendes Aussonderungssystem ist, braucht diese Streitschrift. Sie belegt eindrücklich, wie das deutsche Sonderschulsystem behinderte Schülerinnen und Schüler systematisch exkludiert, stigmatisiert und von der Teilhabe dieser Gesellschaft abhält. Sie zeigt zudem, dass Exklusion eine Gefährdung für die Demokratie und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt darstellt.“

Diese „Streitschrift Inklusion“ sollten auch Jene lesen, die Brigitte Schumanns bildungspolitischen Thesen nicht folgen wollen. Denn es liefert Fakten und Hintergründe, die Jeder kennen sollte, der sich in der Debatte um inklusive Bildung seriös zu Wort melden will. Wer dieses Buch gelesen hat, wird die üblichen Stellungnahmen und Schlagzeilen zum Thema nicht mehr ernst nehmen können.

Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Was Sonderpädagogik und Bildungspolitik verschweigen. Verlag Debus Pädagogik, € 14.90

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