Die Vermeidbaren: Was die Kassenzulassung des Bluttests auf Trisomien für Betroffene und ihre Familien bedeutet

Vortrag von Tina Sander im Rahmen der Veranstaltung „Schwangerschaft als Entscheidungsfall? Wieviel Wissen tut uns gut?“ Online-Fachforum der Pua-Fachstelle im Diakonischen Werk Württemberg in Kooperation mit dem Hospitalhof Stuttgart am 02. Dezember 2020

Ich spreche heute in zwei verschiedenen Rollen zu Ihnen: Zum einen als Mutter einer 18-jährigen Tochter mit Down-Syndrom – und zum anderen als Gründungsmitglied und Mitar-beiterin eines Vereins für Inklusion – dem mittendrin e.V. aus Köln.

Ich werde Ihnen heute also Geschichten aus meinem persönlichen Erleben erzählen – und Ihnen die gesellschaftspolitischen Schlüsse aufzeigen, die wir als Verein aus diesen und ähnlichen Erfahrungen vieler anderer Betroffener gezogen haben.

Wie für die allermeisten Mütter ist meine Tochter für mich das beste Kind der Welt – sie teilt sich diesen Platz mit meinem Sohn, der keine Behinderung hat.
Dass mein Sohn für mich der beste Sohn der Welt ist, muss ich niemandem erklären. Bei meiner Tochter sieht das anders aus: Hier werde ich in unserem Alltag ständig mit der Frage nach ihrer Vermeidbarkeit konfrontiert.

Die gesellschaftliche Realität der Vermeidbarkeit von Kindern, die sind wie meines, gab es bereits lange vor dem Bluttest. Die Trisomie 21 war ein frühes Ziel der Pränataldiagnostik. Spätestens seit den 1980er Jahren, als es zu einer Ausweitung und zunehmenden Normalisierung der Fruchtwasseruntersuchungen kam, gelten Kinder wie meine Tochter als vermeidbarer biografischer Schadensfall.

Die Diagnoseübermittlung: Tag 1 nach der Geburt in der Uniklinik Köln, Auftritt der Oberärz-tin: „Ich muss Ihnen leider eine unerfreuliche Mitteilung machen. Ihr Kind hat das Down-Syndrom. Mein junger Kollege gestern war leider zu feige, Ihnen das mitzuteilen.“ In den folgenden Tagen umwehen mich immer wieder halb angefangene Sätze von den Kranken-schwestern: „So junge Eltern…“ „Da hat ja niemand dran gedacht, das in der Schwanger-schaft zu überprüfen…“ „Sprechen Sie mal mit Schwester Heike, die hat auch schon viel Schlimmes erlebt, bei der sind innerhalb einer Woche der Bruder und der Mann verun-glückt…“

Die Geburt meines Kindes ist offenbar so eine Art Verkehrsunfall.
Zurück zuhause, die Nachbarin: „Herzlichen Glückwunsch, Baby ist ja schon da, alles gut?“ „Naja, sie hat das Down-Syndrom.“ „Oh mein Gott, ich dachte das kann man heutzutage…“
Ja – was denn?

Auf dem Spielplatz, eine Mutter aus dem Kindergarten meines Sohnes: „Wusstet ihr das vorher? Also, ich könnte das nicht, ich habe ja eine Amniozentese machen lassen.“

Jede Mutter, die ein Kind mit Down-Syndrom hat, kann Ihnen ähnliche oder noch schlimmere Situationen schildern.
Vielleicht können Sie nachvollziehen, wie tief solche Bemerkungen uns Eltern von Kindern mit Down-Syndrom verletzen. Und wie mag es erst für Menschen mit Down-Syndrom selbst sein? Wenn das eigene So-Sein gesamtgesellschaftlich als legitimer Abtreibungsgrund gewertet wird? Würden Sie sich in so einer Gesellschaft willkommen oder auch nur sicher fühlen?

Wenn das Ihre Lebensrealität ist, bleiben Ihnen unterschiedliche Wege damit umzugehen:
1. Sie versuchen, diese Realität aktiv auszublenden und ziehen sich ganz ins Private zurück.
2. Sie werden verrückt.
3. Sie empowern sich selbst, suchen sich Mitstreiter:innen und stürzen sich in die aktivistische Arbeit: Macht kaputt, was euch kaputt macht!

Wir – andere betroffene Eltern und ich – haben uns für letztgenanntes entschieden. Aus der tiefen Überzeugung heraus: Nicht mit unseren Kindern und unserem Leben ist etwas falsch, sondern mit einer Gesellschaft, die Kinder wie die unsrigen systematisch ausgrenzt und benachteiligt.

2006 haben wir deshalb in Köln den Verein mittendrin e.V. gegründet. Auslöser der Vereinsgründung war allerdings nicht die Pränataldiagnostik, sondern es waren unsere Erfahrungen rund um die Einschulung unserer behinderten Kinder. Wir wollten, dass unsere Kinder gemeinsam mit den anderen Kindern im Wohnviertel die allgemeine Schule besuchen. Damals noch mehr als heute ein steiniger Weg.

Seitdem liegt der Schwerpunkt unserer Arbeit auf der inklusiven Bildung. Aber im Laufe unseres fast 15-jährigen Bestehens sind weitere Themen dazu gekommen: Inklusion in Freizeit, Kultur und Ausbildung. Und immer zielt die Frage, die wir mit unserer Arbeit stellen ins Herz unserer demokratischen Gesellschaft: Statten wir alle Menschen mit gleichen Rechten aus? Sind Menschen mit einer Behinderung in den allgemeinen Räumen unserer Gesellschaft willkommen?

Wir haben also genug zu tun. Warum stürzen wir uns jetzt auch noch auf den Bluttest?
Die Kassenzulassung des Bluttests auf Trisomien ragt wie ein Leuchtturm aus den Debatten rund um Inklusion bzw. Exklusion hervor. Denn hier geht es um die radikalste Form der Exklusion aufgrund einer Behinderung – der Exklusion vom Leben. Wir als Verein beschäftigen uns mit diesem Thema, da es mitnichten nur um die private, individuelle Entscheidung der einzelnen Schwangeren geht – wäre dem so, ginge uns das überhaupt nichts an. Wir sind weder Gott noch der Papst.

Mit der Kassenzulassung des Bluttests gehen wir als Gesellschaft den letzten entscheidenden Schritt hin zu einem flächendeckenden Screening auf Trisomie 21 – explizit gedacht als Entscheidungsgrundlage für den Abbruch einer eigentlich erwünschten Schwangerschaft,
sollte sich herausstellen, dass das Ungeborene eine Trisomie hat – und damit im Ergebnis zu einer Eugenik auf Kassenschein. Auch wenn alle das Gegenteil behaupten.

Denn wenn wir eines gehört haben in den Debatten rund um die Kassenzulassung – dann das unisono vorgetragene Credo: Niemand wünscht die Selektion von Ungeborenen mit Down-Syndrom!
Wenn dem so ist – warum tun es dann fast alle? Und warum soll dafür auch noch die Solidargemeinschaft aufkommen?

Wir haben aus der intensiven Beschäftigung mit dieser Frage unseren Schluss gezogen:
Es gibt in unserer Gesellschaft rund um das Thema der vorgeburtlichen Selektion eine kollektive Verabredung zur Unehrlichkeit.

Diese Unehrlichkeit wird beim Bluttest auf die Spitze getrieben. Und diese Unehrlichkeit verstellt uns den Weg zu einer dringend notwendigen Humanisierung und Modernisierung der Pränatalmedizin, die einem zeitgemäßen Bild von Behinderung folgt und die vereinbar ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland rechtsgültig ist.
Um diesen Schluss nachvollziehbar zu machen, möchte ich mit Ihnen gemeinsam einen Blick auf Handeln und Argumente der wichtigsten Akteur:innen auf dem Spielfeld werfen:

1. „Die arme, verängstigte, schwangere Frau“ – als Figur

Eine Bemerkung vorweg: „die arme, verängstigte, schwangere Frau“ ist hier keine reale Person – zu ihr komme ich ganz am Schluss –, sondern eine Figur, derer sich alle sehr gerne bedienen. Hinter „der armen, verängstigten, schwangeren Frau“ kann man sich wunderbar verstecken. Sie ist der optimale Schutzschild für jede Kritik am Bluttest -– denn „die arme, verängstigte, schwangere Frau“ kann man nicht angreifen oder kritisieren, an ihr kommt man nur schwer vorbei.

Und da die „arme, verängstigte, schwangere Frau“ den Bluttest braucht, um ihre Ängste in den Griff zu bekommen, darf man ihr den Zugang zu diesem nicht verwehren. Die Solidargemeinschaft muss natürlich für die Kosten aufkommen, wegen der sozialen Gerechtigkeit.
Komisch, dass die arme Frau bei anderen Gesundheitsleistungen eher nicht so interessant ist, z.B. wenn sie eine Brille braucht oder eine teure Zahnbehandlung…

2. Die Herstellerfirmen

Die Pharmaunternehmen, die den NIPT entwickelt haben und herstellen, wollen in erster Linie eines: Geld verdienen. Das ist keine große Überraschung. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Trisomie 21 eine Behinderung mit erfreulich großem Marktpotenzial.

Seit Jahrzehnten ist ihre Vermeidung als Fixpunkt aller pränataldiagnostischen Bemühungen gesellschaftlich fest etabliert. Das nimmt jeder ethischen Diskussion den Wind aus den Segeln. Wir zahlen ja schon die Amniozentese – wo ist das Problem? Fast Jede:r hat hierzulande eine grobe Vorstellung vom Down-Syndrom, wie unzutreffend auch immer diese sein mag. Das Down-Syndrom eignet sich damit hervorragend als Projektionsfläche für alle Ängste, die eine Schwangere haben kann – damit wären wir wieder bei Punkt 1. Zudem werden die Frauen in den Industrienationen bei der Geburt ihrer Kinder immer älter – die Wahrscheinlichkeit für das Down-Syndrom steigt – ein echter Wachstumsmarkt.

Das hat auch das Bundesforschungsministerium erkannt und gleich über verschiedene Förderprogramme die Entwicklung des Bluttests mit insgesamt rund 1,5 Millionen € gefördert – aus Steuergeldern. Wichtige Zielsetzung der Förderung: „der Beitrag des Projekts zur zukünftigen Positionierung des antragstellenden Unternehmens am Markt“ (Quelle: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/045/1804574.pdf S.11).

Der neue Test erfordert lediglich eine einfache Blutentnahme bei der Mutter, kein unappetitliches Abortrisiko mehr, wie bei der Amniozentese. Fertig ist die Werbebotschaft:
„Gewissheit erlangen. Ohne Risiko für das Kind.“, PraenaTest der Firma LifeCodexx

Dass der NIPT lediglich einen individuellen Vorhersagewert auf Grundlage verschiedener Parameter errechnet und damit überhaupt nicht mit einer Amniozentese vergleichbar ist – muss man ja nicht an die große Glocke hängen. Dass diese Vorhersagewerte sehr hohe falsch-positiv Raten haben, insbesondere bei jüngeren Frauen – muss man ja nicht drüber reden. Dass jeder auffällige Befund nach geltenden Richtlinien deshalb durch eine Amniozentese überprüft werden muss – über das Kleingedruckte können ja dann die Ärzt:innen informieren. Dass ein negativer NIPT keinesfalls bedeutet, dass aus dem Fötus mal ein nichtbehindertes Baby wird – muss man in der Kommunikation ja nicht näher drauf eingehen.

Und dass sich für Föten mit Trisomie durch die Kassenzulassung des neuen Tests das Abortrisiko voraussichtlich der 100-Prozent-Marke nähern wird – darüber wird sowieso nicht gesprochen. In Dänemark, wo es ein flächendeckendes Screening auf Trisomie 21 bereits seit den frühen 2000er Jahren gibt, haben wir diese Situation.

3. Der G-BA und das IQWiG

Ob neue Medikamente oder medizinisch-technische Verfahren Kassenleistung werden, entscheidet hierzulande der G-BA. Das erfordert ein Erprobungs- und Methodenbewertungsver-fahren, das im Falle des Bluttests das IQWiG durchgeführt hat. Es gibt hierzulande also unabhängige Prüfinstitutionen, die die Güte neuer Verfahren auf der Grundlage evidenzbasierter Wissenschaft untersuchen. Denen hätten die Mängel des neuen Verfahrens doch auffallen müssen – oder?

Nun ja: Immerhin findet sich im Abschlussbericht des IQWiG zum Methodenbewertungsverfahren eine Passage, die das Thema der falsch-positiven Vorhersagewerte behandelt. Die „gute Bilanz“ des NIPT gelte nur beim Einsatz für ein kleines „Hochrisiko-Kollektiv“. Beim flächendeckenden Einsatz gehe diese „gute Bilanz“ runter.

Steht der NIPT also künftig nur diesem „Hochrisiko-Kollektiv“ als Kassenleistung offen? Mitnichten: Im Entwurf des G-BA über die neue Mutterschaftsrichtlinie ist keine Grenze in der Indikation des NIPT gezogen. Mit der vorgesehenen Formulierung steht er prinzipiell allen Schwangeren zur Verfügung. Dreh- und Angelpunkt auch hier wieder: die Angst der Schwangeren vor einer möglichen Trisomie des Ungeborenen.

Wie kann es sein, dass der G-BA jegliche wissenschaftliche Vernunft über Bord wirft? Sitzt die Angst vor Behinderung auch bei den G-BA-Vertreter:innen so tief, dass sie völlig irrational agieren und jede normale Schwangerschaft zum psychischen Belastungsfall deklarieren und somit pathologisieren? Und damit die Weichen für ein flächendeckendes Screening auf Trisomien stellen – obwohl sie doch behaupten, genau das nicht zu tun? Und damit erwartbare Kollateralschäden, wie mehrere hundert falsch-positive Testergebnisse pro Jahr einfach hinnehmen?

Und jetzt haben wir noch gar nicht von den gesellschaftlichen und ethischen Folgen gesprochen – da sagen sowohl G-BA als auch IQWiG: sorry, nicht unser Ressort.

4. Die Ärzt:innen

Die niedergelassenen Gynäkolog:innen und Pränatalmediziner:innen sind in der Regel die Personen, die Schwangere zu den unterschiedlichen Verfahren sowie zum Testergebnis informieren. Wie sie das zu tun haben, regelt das Gendiagnostikgesetz: ergebnisoffen und unter Wahrung des Rechts auf Nichtwissen.

Viele sagen, dass sie damit wichtige Gatekeeper seien – da gibt es aber ein Problem: Die Angst vor dem „behinderten Kind als Schaden“ ist in der Ärzteschaft noch immer so groß, dass tendenziell aus Sorge vor juristischen Konsequenzen im Zweifel immer eher zu als gegen Diagnostik beraten wird – auch wenn sich die Rechtslage dazu bereits Mitte der 1990er Jahre geändert hat.

Und nicht nur das: Nach einem positiven Befund wird auch eher zum Abbruch der Schwangerschaft geraten. Dafür kennen wir genügend Beispiele aus unserer Beratungsarbeit. Um belastbar nachweisen zu können, dass dies keine bedauerlichen Einzelfälle sind, müsste die ärztliche Beratung Schwangerer flächendeckend evaluiert werden. Ich weiß allerdings nicht, wer daran wirklich ein Interesse und das entsprechende Mandat hat, das zu verfügen.

Um sich juristisch abzusichern, tendieren unserer Erfahrung nach Ärzt:innen dazu, Schwangeren eine ellenlange Liste mit möglichen „Mängeln“ des werdenden Kindes mit Trisomie 21 vorzulegen. Damit hinterher Keine kommen und klagen kann, wird ein Worst-Case-Szenario entworfen: von Epilepsie, Leukämie, schwerem Herzfehler, Fehlbildungen der Verdauungsorgane, schwerer geistiger Behinderung etc. ist dann die Rede. Ob das Kind mit Trisomie 21 tatsächlich diese gesundheitlichen Probleme haben wird, kann aber niemand vorhersagen.

Wollte man alle Eventualitäten ausschließen, dann müsste man auch jeder Schwangeren mit unauffälligem Fötus eine Liste mit möglichen unerwünschten Entwicklungen vorlegen: Das gesund geborene Kind könnte an Krebs erkranken, einen Unfall erleiden oder eine Meningitis bekommen und in der Folge behindert sein, es könnte schizophren werden, ein Junkie, einen Genozid planen, pädophil sein, im Alter Vorsitzender einer rechten Partei werden und nur noch Hündchen-Krawatten tragen… Im Laufe eines Menschenlebens kann viel schief gehen.

Und vom defizit-orientierten Blick der Medizin auf Behinderung, von persönlichen Vorurteilen gegenüber behinderten Menschen, die viele Ärzt:innen verinnerlicht haben, haben wir noch gar nicht gesprochen.

Ein gelingendes Leben und eine glückliche Familie lassen sich nicht an der Zahl der Chromosomen festmachen. Eine Medizin, die das tut, hat alles Wesentliche über das Leben und Menschsein verlernt. Und über das Wesen von Schwangerschaft: Jede Schwangerschaft ist ein Weg ins Unbekannte und Unkontrollierbare. Daran ändert auch der Bluttest auf Trisomien nichts.

5. Die Feminist:innen mit stark verkürztem Blick aufs Thema

Viele Feminist:innen reduzieren das Thema auf ein zentrales Postulat: Mein Bauch, meine Wahl – Ende der Diskussion.

Dass ein so legitimiertes Recht auf Selektion in einem höchst problematischen Spannungsverhältnis zu Behindertenrechten steht, schaut man sich nicht so gerne ehrlich an.
Dass man aus Schwangeren damit „informierte Konsument:innen“ mit dem Recht ein „fehlerhaftes Produkt“ zurückzugeben macht – und damit einer utilitaristischen und neoliberalen Sicht auf Schwangerschaft das Wort redet auch nicht.

Man kann das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Bauch auch anders begreifen, wie eine schwangere Frau bei einer Diskussionsveranstaltung: Sie berichtete, dass sie die ganze bisherige Schwangerschaft über ihren Bauch gegenüber Ärzt:innen „verteidigen“ musste. „Ständig muss ich irgendwelche Leute mit ihren Untersuchungen abwehren, immer will jemand mit Nadeln in meinen Bauch stechen, ihn durchleuchten oder sonst was. Immer redet irgendwer von Risikofaktoren. Ich will doch einfach nur meine Schwangerschaft genießen, das ist eigentlich so eine schöne Zeit.“

Dass mit dem Bluttest als Kassenleistung diese „Verteidigung“ des eigenen Bauches für die einzelne Frau immer schwieriger wird, sollte auch den Feminismus interessieren.

6. Die Bundestagsabgeordneten

Die nicht-invasiven Bluttests auf genetisch bedingte Behinderungen und Erkrankungen sind eine technische Innovation mit weitreichenden Folgen. Wir sprechen auch längst nicht mehr nur vom Bluttest auf Trisomien, viele weitere solcher Tests sind entweder bereits zugelassen oder in der Entwicklung. Was würden wir von unserem Parlament als Gesetzgeber in so einer Situation erwarten?

Dass Fragen wie diese ehrlich diskutiert würden: Ist es überhaupt vereinbar mit dem Sozialgesetzbuch V und dem Gendiagnostikgesetz, das Leistungen, die keinerlei medizinischen Nutzen haben, von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden? Ist ein Screening auf bestimmte genetische Abweichungen überhaupt vereinbar mit Artikel 3 des Grundgesetzes: Niemand darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden? Wie verhält sich eine Kassenzulassung des NIPT zur UN-Behindertenrechtskonvention, die hierzulande rechtsgültig ist?

Ist das vor der Kassenzulassung des NIPT passiert? Nein: Eine einzige zweistündige und inhaltlich lausige Orientierungsdebatte hat dazu im April 2019 stattgefunden. Die allermeisten Abgeordneten sind hier der vorgezeichneten Storyline der Hersteller gefolgt: von der armen, verängstigten, schwangeren Frau, die man nicht allein lassen dürfe und der man die risikoreiche Amniozentese ersparen müsse.

7. Die verängstigte, schwangere Frau – als reale Person

So schließt sich der Kreis und wir sind bei der Person, die Ihnen in Ihrem Berufsalltag begegnet. Vermutlich werden Sie mir zustimmen, dass keine noch so gute Beratung die genannten Schieflagen alleine ausbügeln kann.

Was aber Beratung aus unserer Sicht aber dringend leisten sollte:
Sie darf den Schock einer Schwangeren über ein positives Testergebnis nicht automatisch als Indikation für einen sofortigen Abbruch der Schwangerschaft missdeuten. Das passiert unserer Erfahrung nach viel zu häufig.

Sie sollte einen Raum öffnen, in dem die Schwangere empathisch und ehrlich darin unterstützt wird, ihre Gefühle und Ängste zu entwirren und zu reflektieren.

Sie sollte eine nicht-defizit-orientierte Perspektive auf Behinderung anbieten.

Durch unsere Arbeit wissen wir besser als die meisten, dass wir noch lange nicht im inklusiven Wunderland leben. Wir wissen aber auch: Wir leben unter sehr viel besseren Bedingungen als je zuvor in der Vergangenheit. Ein Kind mit Behinderung ist nicht mehr automatisch ein soziales Stigma. Die medizinische Versorgung ist so gut, dass die meisten Menschen mit Down-Syndrom heute eine nahezu durchschnittliche Lebenserwartung haben. Es gibt Unterstützungs- und Hilfsangebote. Und es gibt die UN-Behindertenrechtskonvention: und damit das Versprechen auf die volle Teilhabe in unserer Gesellschaft.

Und noch nie zuvor war es so einfach wie heute, ein Kind mit Trisomie 21, ein Kind wie meine Tochter, zu vermeiden.

Eine Dokumentation der kompletten Veranstaltung finden Sie hier:

Logo des mittendrin e.V mit den Claim: Inklusion schaffen wir steht auf einem Foto mit mehreren Jugendlichen, die in die Kamera lachen.

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  • Bluttest

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