Es fehlt der politische Wille

Seit Jahrzehnten setzen sich Eltern in der Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben - gemeinsam lernen dafür ein, dass behinderte Kinder zusammen mit nicht behinderten Kindern in die Schule gehen dürfen.

    Herr Kochanek, Sie setzen sich seit 25 Jahren dafür ein, dass behinderte und nicht behinderte  Kinder gemeinsam in der Schule unterrichtet werden. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

1985 haben wir angefangen, uns für behinderte Kinder einzusetzen - meist waren das Kinder mit einer geistigen Behinderung, zum Beispiel Kinder mit Down-Syndrom. Heute sind Behinderungen dieser Art seltener geworden. Das liegt unter anderem daran, dass man sie mittlerweile schon früh in der Schwangerschaft feststellen kann. Viele Eltern entscheiden sich dann gegen das Kind. Massiv steigt dagegen die Anzahl der Kinder mit Lern- und Entwicklungsstörungen.

    Heißt das, es gibt immer mehr behinderte Kinder?

Ja. Die absolute Anzahl der behinderten Kinder steigt. Zum einen liegt das daran, dass auch extreme Frühgeburten aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts eine gute Überlebenschance haben. Durch die frühe Geburt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Entwicklung der Kinder beeinträchtigt wird und sich später eine Behinderung einstellt. Wissenschaftler vermuten, dass Wahrnehmungs- und Verhaltensprobleme auf Frühgeburten zurück zu führen sind. Zum anderen schafft sich das dreigliedrige Schulsystem aber auch selbst immer mehr „behinderte" Kinder.

Die Schüler werden nach der Grundschule auf Grund ihrer vermeintlichen Leistungsfähigkeit auf die verschiedenen Schulformen verteilt. So soll in jedem Schultyp eine lernhomogene Schülerschaft entstehen. Für behinderte Kinder heißt das jedoch, dass bei ihrem individuellen Förderungsbedarf kein Platz für sie in der Regelschule ist. Denn die ist gar nicht auf den Bedarf des einzelnen Kindes ausgerichtet. Die frühe Selektion macht aber auch einige Kinder erst zu behinderten Kindern. Durch die zunehmende Armut haben immer mehr Kinder massive Bildungsdefizite. Viele von ihnen landen auf der Förderschule.

Unser System antwortet also auf die stark zunehmende Bildungsarmut unserer Kinder nicht etwa mit verstärkter Förderung der benachteiligten Kinder. Im Gegenteil: Es verschärft die Auslese und Aufteilung in Förderschulen. Dies ist für mich ein Skandal angesichts des Benachteiligungsverbotes in Artikel drei des Grundgesetzes. Hier ist nämlich festgeschrieben, dass Behinderte nicht benachteiligt werden dürfen. Somit hat der Staat die Pflicht, sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. In Nordrhein-Westfalen zeigt sich dieser Skandal darin, dass Kinder mit Behinderung zu 90 Prozent Förderschulen besuchen.

    Sie vertreten mit der LAG Eltern, die ihre Kinder nicht in Förderschulen unterrichten lassen möchten. Warum lehnen Sie das Konzept der Förderschulen ab?

Die Förderschulen können die Kinder nicht optimal und individuell fördern. Besonders schlimm finde ich, dass sie einen Bildungskanon haben, der sich aus einem amtlich definierten „sonderpädagogischen Förderbedarf" ableitet - und nicht aus den Fähigkeiten, die die Kinder mitbringen. Damit haben die Förderschulen einen eingeschränkten Bildungskanon.

Ein Beispiel: Ein behindertes Kind hat im integrativen Kindergarten gelernt sehr selbstständig zu sein: Es kann sich also selber anziehen, zur Toilette gehen, ohne Hilfe essen oder sich die Schuhe zumachen. Dann kommt es auf die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung". Dort wird es in den ersten Jahren weiter „lebenspraktisch gefördert", weil dies das Curriculum vorsieht. Es muss also unter Umständen weiter etwas lernen, was es ohnehin schon kann, anstatt lesen oder schreiben zu lernen. Das Problem: Die Förderung dieser kognitiven Fähigkeiten ist an solchen Förderschulen gar nicht vorgesehen.

    Da würde Ihnen aber jede Förderschule entschieden widersprechen. Gerade durch die Aufteilung in unterschiedliche Förderschwerpunkte versuchen sie doch die Kinder individuell zu fördern.

Natürlich glauben sie, dass sie das tun. Ich halte das allerdings für eine gnadenlose Selbstüberschätzung. Denn wie ich eben erklärt habe, lässt die Struktur der Förderschule eine individuelle Förderung einfach nicht zu - egal, ob man das beabsichtigt oder nicht. Deswegen bin ich dagegen, dass Kinder an Förderschulen abgeschoben werden. Ich finde, jedes Kind muss die Möglichkeit haben, seine Fähigkeiten so gut wie möglich auszubilden. Das geht meiner Meinung nach nur an einer integrierten Schule.

    Aber es gibt auch Eltern, die ihre Kinder gar nicht in einer allgemeinen Schule haben wollen und sie freiwillig auf eine Förderschule schicken.

Diese Gruppe nimmt zu. Das stimmt. Meist sind es Eltern, deren Kindern eine erhebliche körperliche Beeinträchtigung haben. Denn wenn ein Kind sich mit dem Rollstuhl fortbewegt, muss das Schulgebäude zum Beispiel einen Aufzug haben - Förderschulen für den Schwerpunkt „körperliche-motorische Entwicklung" sind so eingerichtet, bei Regelschulen ist das eher die Ausnahme. Viele Eltern von Kindern mit einer Lernbehinderung und Kindern mit Erziehungsschwierigkeiten wären dagegen froh, wenn sie ihre Kinder auf Regelschulen schicken könnten, um dem Stigmatisierungseffekt zu entgehen.

Das Problem ist, dass gerade diese Familien eher weniger Geld haben. Deshalb können sie sich keinen Rechtsanwalt leisten, der für das Kind einen Platz an einer Regelschule durchsetzt. Dieser Fakt wird einfach in ein Einverständnis oder gar einen Zuspruch zu Förderschulen uminterpretiert. Besonders Politiker nutzen dies, um sich für Förderschulen auszusprechen.

    Hat sich in der Politik in Sachen schulischer Integration etwas verändert, seit die Landesregierung gewechselt hat?

Die neue Regierung unterscheidet sich in ihrer aktiven Integrationspolitik bisher noch nicht besonders von der rot-grünen Landesregierung. In Diskussionen merken wir aber, dass die Regierungspolitiker und wir ganz unterschiedliche Haltungen zu dem Thema Integration haben. Es gibt bisher keine handfesten Beschlüsse oder Vorschläge. Aber die Landesregierung denkt zum Beispiel über einen Ausbau von Förderschulen zu „sonderpädagogischen Kompetenzzentren" nach. Der Auftrag der Förderschulen soll in Richtung Frühförderung und Prävention erweitert werden. Die Idee gefällt uns nicht, weil hier wieder die Schulform und nicht das Kind im Mittelpunkt steht. Wir fordern, dass an jeder allgemeinen Schule mindestens eine Lehrkraft für Sonderpädagogik mit dem Auftrag tätig ist, durch präventive Maßnahmen die Aussonderung von Kindern zu vermeiden. Kompetenzzentren stellen wir uns als Dienstleistungszentren für ergänzende Beratung, Fortbildung und Bereitstellung von medialen-technischen Hilfsmitteln für den individualisierten Unterricht vor. Sie könnten eine Brücke zwischen Allgemeinen und Förderschulen sein.

    Kein Politiker würde sagen, er sei gegen die Integration der behinderten Kinder. Warum gibt es dann so wenige Integrationsschulen?

Das Land fordert zum Beispiel die Einhaltung des Benachteiligungsverbotes aus Artikel drei des Grundgesetzes von den Schulen nicht ein. Die „Teilhabe Behinderter" ist im Schulgesetz von NRW kein festgelegtes Ziel. In der Praxis, die Eltern erleben, entscheiden die Lehrerinnen und Lehrer selbst, ob sie ein behindertes Kind unterrichten wollen oder nicht. Das geht nicht. Das Land muss „Teilhabe" als Leitlinie vorgeben. Ein Lehrer kann sich doch seine Schüler nicht aussuchen dürfen. Es darf politisch keine Alternative zur Teilhabe geben. Dann gäbe es auch keine Möglichkeit für Lehrer sich der Aufgabe einfach zu entziehen.

    Das hört sich nach typischer Lehrer-Schelte an?

In unserer täglichen Arbeit erleben wir es leider immer wieder, dass die Integration an unwilligen Lehrern scheitert. Einen besonders eklatanten Fall gibt es in Balve im Sauerland. Dort versuchten Eltern mehrer Jahre hintereinander ihre Tochter an der Hauptschule in Neuenrade anzumelden. Das Mädchen hat eine geistige Behinderung. Es ist inzwischen 13 Jahre alt. Die Eltern möchten, dass ihre Tochter in die fünfte Klasse der Hauptschule eingeschult wird. Aber die Schule in Neuenrade nimmt das Mädchen nicht. Die Begründung: Die Förderung sei eine Überlastung für die Lehrer. Deshalb sind die Eltern vor Gericht gezogen, aber ohne Erfolg. Das Gericht hat der Schule Recht gegeben. Besonders wahnwitzig ist die Situation, weil zur selben Zeit in der Hauptschule eine integrative Lerngruppe gebildet wurde. Für mich ist das ein Skandal - da wird an der Befindlichkeit der Lehrer über die Zukunft des behinderten Mädchens entschieden.

    Aber viele Lehrer stehen vor Klassen mit 30 oder mehr Kindern. Wie sollen sie da noch behinderte Schüler individuell fördern?

Ich will den Lehrern nicht generell die Schuld in die Schuhe schieben. Es ist eher so: Sobald man ernsthaft versucht, behinderte Kinder in die Schulen zu integrieren, wird überdeutlich: Es fehlen Lehrer. Die Schulen sind personell viel zu schlecht ausgestattet, um die Kinder gut zu fördern - und damit meine ich nicht nur die behinderten Kinder. Für eine optimale Förderung, müsste man viel mehr Geld in das Bildungssystem stecken. Aber leider wird das Budget ja immer weiter gekürzt.

    Können Sie ein Beispiel einer Schule nennen, bei der die Integration gut funktioniert?

Im münsterländischen Ostbevern, im Kreis Warendorf, hat zum Beispiel der Stadtrat parteiübergreifend beschlossen, dass alle Eltern ihr behindertes Kind an einer Allgemeinen Schule anmelden dürfen und es auch dort versorgt wird. Oder in Dortmund: Dort bezahlt die Stadt aus Haushaltsmitteln Assistenzkräfte, die zum Beispiel autistische oder geistig behinderte Kinder in der Schule unterstützen. Diese Kinder finden sich oft nicht gut in dem Gebäude zu Recht oder brauchen pflegerische Hilfe. Ohne die Unterstützung der Stadt könnten sie nicht an einer Regelschule unterrichtet werden. So klappt es sehr gut. Es ist einfach eine politische Entscheidung - entweder Teilhabe ist gewollt oder eben nicht.

    Fazit: Eine bessere Integration ist nur mit mehr Geld möglich!?

Genau. Wir beobachten zum Beispiel einen Run auf integrierte Privatschulen. Eltern, die es sich leisten können, die Fahrtkosten und das Schulgeld für ihre Kinder zu zahlen, schicken ihre Kinder vermehrt auf Privatschulen. Dort bekommen sie dann vielleicht sogar eine bessere Förderung als an einer öffentlichen Schule. Ich finde das bedauerlich. Eltern, die mit dem Rechtsanwalt drohen können, wenn ihr Kind keinen Platz an einer Allgemeinen Schule bekommt, haben eine Chance sich durchzusetzen. Alle anderen müssen ihr Kind auf eine Förderschule schicken. Aber so sieht es nun mal aus in NRW.

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