Integration vor dem Ende?

Die Integration behinderter Kinder in Hamburger Grundschulen gilt als vorbildlich. Vor allem, weil an bestimmten Schulen in den integrativen Regelklassen darauf verzichtet wird, lernschwachen Kindern das Etikett "behindert" zu verpassen.

Dass in Deutschland Kinder mit Behinderungen und mit sozialer Benachteiligung auch durch das Schulsystem benachteiligt und ausgegrenzt werden, hat der UN- Menschenrechtskommissar Vernor Munoz in seinem offiziellen Bericht deutschen Politikern kritisch vorgehalten. Eine jüngst von der UN-Vollversammlung verabschiedete Konvention fordert von den Mitgliedsstaaten die vollständige, diskriminierungsfreie Einbeziehung/Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in das allgemeine Schulsystem. Vor dem Hintergrund einer insgesamt unterentwickelten Integrationspolitik in Deutschland sind die bildungspolitischen Vorgänge in Hamburg kein lokales Ereignis. Wenn das für die Bundesrepublik beispielhafte Hamburger Integrationskonzept in seinem Bestand bedroht ist, dann sind dramatische Rückschritte für die Integrationspolitik weit über Hamburg hinaus zu befürchten.

Hamburg hat bildungspolitisch gezeigt, wie der Weg von der integrativen zu einer inklusiven Grundschule aussehen könnte. Ab1984 erstritten Elterninitiativen zunächst die Einrichtung von Integrationsklassen für Kinder mit geistiger und körperlicher Behinderung bzw. mit Sinnesschädigungen. 1991 kam als zweites Kernelement die Integrative Regelklasse auf Initiative von Schulen dazu. Anstelle der traditionellen Sonderschulüberweisungen sollte im Schulversuch erprobt werden, Kinder aus sozialen Brennpunkten mit Lern- und/oder Sprachproblemen sowie mit Verhaltensauffälligkeiten bis zum Ende der Grundschulzeit integrativ zu fördern.

Bis heute ist daran konzeptionell einmalig, dass die integrative Förderung an den 36 Grundschulen im Schulversuch nicht abhängig gemacht wird von einem förmlichen Feststellungsverfahren. Kinder müssen nicht erst als behindert diagnostiziert, kategorisiert und etikettiert werden, da die zusätzlichen sonderpädagogischen Ressourcen für die Schulen nicht an die Zahl der förderbedürftigen Kinder gebunden ist. Der Grundgedanke der Inklusion, dass das Schulsystem so ausgestattet sein muss, dass es den individuellen Förderbedürfnissen aller Kinder im wohnortnahem Einzugsbereich gerecht wird, wird durch eine sonderpädagogische Grundausstattung der Schulen für Kinder in benachteiligten Lebenslagen realisiert.

Leider fehlte der SPD der Mut, die Integrative Regelklasse trotz langjähriger erfolgreicher Erprobung gesetzlich abzusichern und das Konzept in die Fläche zu bringen bei gleichzeitigem Auslaufen der entsprechenden Sonderschulen. Seit dem Regierungswechsel in Hamburg ist die Integration dort zum machtpolitischen Spielball der CDU geworden. Aus ihrer Sicht stellen die 36 Grundschulen mit Integrativen Regelklassen im Schulversuch wegen ihrer privilegierten Ausstattung gegenüber den übrigen 215 Hamburger Grundschulen ein „Gerechtigkeitsproblem" dar. Zunächst plante sie, aus allen Schulen des Schulversuchs die sonderpädagogischen Ressourcen abzuziehen, um über die Einrichtung von Diagnose- und Förderzentren „gezielt und diagnosegeleitet" den Einsatz der sonderpädagogischen Mittel „gerecht" zu verteilen. Die Proteste der betroffenen Schulen, Lehrer und Eltern sorgten dafür, dass nur eine „kleine" Lösung zum Zuge kam: Mit dem Schuljahr 2007/2008 sind 2 Förderzentren als Schulversuch eingerichtet worden, um die angebliche „Gerechtigkeitslücke" zunächst in den Pilotregionen zu schließen.

In den sogenannten Integrativen Förderzentren, die der Verband für Sonderpädagogik (vds) maßgeblich konzeptionell mitentwickelt hat, entscheiden wieder Sonderpädagogen über den „richtigen" Förderort für Schüler und Schülerinnen mit Lernproblemen. Schon vorab sind die Integrations- und Segregationsquoten festgelegt worden. Ein Drittel der Schüler mit Förderbedarf soll im Förderzentrum unterrichtet werden. Integration gibt es nicht für alle. Sie bleibt gebunden an den individuumsbezogenen Etikettierungsprozess. Damit erhält sich über die Selektion in der Grundschule das eigenständige Sonderschulsystem.

Dass die Integrativen Regelklassen nach der Bürgerschaftswahl im nächsten Jahr unter einer CDU- geführten Regierung abgeschafft werden sollen, kann als sicher gelten. Eine Große Anfrage der CDU bereitet diese Entscheidung vor. Dabei wird versucht, das eigentliche ideologische Anliegen mit dem Verweis auf die Wissenschaft zu tarnen. Um die Leistungsfähigkeit und pädagogische Sinnhaftigkeit der Integrativen Regelklassen in Frage zu stellen, beruft sich die CDU-Fraktion auf wissenschaftliche Ergebnisse, die im Rahmen der Studie über „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern am Ende der Jahrgangsstufe 4 in Hamburger Grundschulen" (KESS 4) gewonnen wurden. Zitiert wird aus der Studie allerdings nur, was der Politik gefällt: Die Leistungsergebnisse der Grundschulen mit Integrativen Regelklassen seien nicht günstiger ausgefallen als die vergleichbarer Grundschulen ohne den zusätzlichen Ressourceneinsatz.

Aber genau die Frage der Vergleichbarkeit ist höchst strittig. Im Rahmen der Querschnittsanalyse konnten die Lernausgangslagen der Kinder an den verglichenen Schulen nicht ermittelt und zum Bezugsrahmen für faire Leistungsvergleiche gemacht werden. Nur einer Längsschnittuntersuchung ist vorbehalten, über die tatsächliche Lernentwicklung von Schülern an allen Hamburger Grundschulen Auskunft zu geben. .

Auch wird seitens der CDU-Politiker ignoriert, dass die KESS- Studie positiv die gelungene soziale Integration herausstellt. Den Integrationsklassen und Integrativen Regelklassen wird attestiert, dass auch Kinder mit Leistungsschwächen sich dort wohlfühlen und ein positives Selbstbild entwickeln. Dies ist umso beachtenswerter, als die Ergebnisse der „World Vision"- Kinderstudie bei den meisten sozial benachteiligten Kindern ein eher pessimistisches Selbstkonzept festgestellt hat. Die Ersetzung der individuellen Lernberichte durch vergleichende Ziffernzeugnisse in den Hamburger Integrationsklassen, wie es die Schulbehörde mit diesem Schuljahr vorschreibt, ist daher ein geradezu sträflicher Anschlag auf das gute Klassenklima im Gemeinsamen Unterricht.

Wesentlich aber ist, dass die in Teilen umstrittenen Untersuchungsergebnisse in gar keinem Fall die Alternative der Förderzentren begründen und rechtfertigen. Nicht nur aus menschenrechtlicher Sicht gilt der Anspruch der Einbeziehung aller Kinder in eine gemeinsame Schule für alle. Auch wissenschaftlich ist erwiesen, dass die effektivste Förderung der Kinder mit Behinderung und Benachteiligung am besten unterrichtsintegriert in den allgemeinen Schulen gelingt.

Mit dem Konzept der Integrativen Grundschule und ihren zwei Kernelementen, der Integrationsklasse und der Integrativen Regelklasse, lässt sich zwar das bestehende selektive Sekundarschulsystems nicht aufheben. Dazu bedarf es einer politischen Entscheidung. Aber wir hätten, was nicht wenig ist, eine Grundschule, die sich im Sinne der UN-Konvention entwickelt, und ein solides pädagogisches Fundament für ein längeres gemeinsames Lernen über die Grundschulzeit hinaus.

Brigitte Schumann

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